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250 | Jerneja Ferlež
und zu einer größeren Verbreitung des Themas ‚Menschen in der Stadt‘ führte.20
Manchmal steht nicht nur ebenerdig alles dicht gedrängt, man sieht auch, wie
Menschen aus den Fenstern der ersten Stockwerke hinunterblicken oder aus den
halb geöffneten Lokaltüren hervorlugen. Dabei handelt es sich um zwei verschie-
dene Arten von Dargestellten. Das eine – typisch für frühe fotografische Aufnah-
men aus solchen Umgebungen überhaupt – sind aufgereihte oder zu Gruppen zu-
sammengestellte Menschen, die bewegungslos ins Objektiv starren. Sie sehen oft-
mals aus wie eingefrorene, in den Raum gestellte Menschenmengen. Das andere
sind auf der Aufnahme scheinbar zufällig Eingefangene, Menschen im Vorbeige-
hen, manchmal mitten im Schritt, wie sie ihren Weg durch die Stadt weiterführen.
Einfach gesagt handelt es sich um den Unterschied zwischen posierenden und sich
bewegenden Menschen. Woher kommt diese Dualität? Um darüber nachzuden-
ken, muss man sich in die Situation hineinversetzen, in der das Foto aufgenommen
wurde. Die Abgelichteten sind später auf der Aufnahme zu sehen, der Fotograf
hingegen nicht. Zum Entstehungszeitpunkt der Fotografie waren alle anwesend,
wobei der Fotograf wegen seines Handelns wohl die bemerkenswerteste Figur war
– er kam auf einen Platz oder eine Gasse, stellte seine Kamera auf und versetzte
sie vielleicht mehrfach, um das gewünschte Motiv zu erhalten. Währenddessen
bewegten sich auf diesem Platz oder dieser Gasse Menschen, die ihn nicht über-
sehen konnten, auch wenn vielleicht viel los war. Ein Fotograf mit seiner Kamera
war gegen Ende des 19. Jahrhunderts keine alltägliche Erscheinung; die Leute aber
waren mit dem Vorgang des Fotografierens zumindest schon so vertraut, dass sie
wussten, was das Resultat sein würde. Sie wussten, dass sie auch später am Bild
zu sehen sein würden, wenn sie zum Zeitpunkt der Aufnahme vor der Kamera
standen. Ob sie dieses Wissen davon abhielt für die Kamera zu posieren oder ob
sie ihre Neugier oder der Fotograf dazu brachte, wissen wir nicht. Wenn es sich
um einen Fotografen aus dem heimischen Umfeld handelte, kannten die Leute ihn
wohl, war er von woanders, wohl eher nicht.
20 Monika Faber, „Die Momentfotografie erobert die Stadt. Zur Fotografie als Kunst des
Sekundenbruchteils“, in: Monika Faber, Klaus Albrecht Schröder (Hg.), Das Auge und
der Apparat. Eine Geschichte der Fotografie aus den Sammlungen der Albertina, Seuil,
Paris-Wien 2003, S.242-269, hier S.245. Und allgemein zum Thema Menschen in der
Stadt: Ponstingl, Straßenleben in Wien; Michael Ponstingl, „Das Wiener Straßenleben
als fotografische Postkartenserie – oder: vom Serien-Basteln“, in: Eva Tropper, Timm
Starl: Format Postkarte. Illustrierte Korrespondenzen, 1900 bis 1936, (= Beiträge zur
Geschichte der Fotografie in Österreich, Bonartes, Bd.9), S.88-109.
Bildspuren – Sprachspuren
Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Titel
- Bildspuren – Sprachspuren
- Untertitel
- Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie
- Autoren
- Karin Almasy
- Heinrich Pfandl
- Herausgeber
- Eva Tropper
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4998-1
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 346
- Schlagwörter
- Postkarte, Mehrsprachigkeit, Habsburger Monarchie, Alltagsgeschichte, Kurznachrichtenträger, Alltagskommunikation, Fotografie, Untersteiermark, Mikrogeschichte, Eisenbahn, Tourismus
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen