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affEkt in dEr Gotik
Man ist leicht versucht, angesichts der erstaunlichen Portale skandinavischer
Stabkirchen (Abb. 1) oder französischer romanischer Kirchen mit dem Anthro-
pologen Alfred Gell an ein „Verzaubern“ zu denken, an eine Art von Hypnose.9
In der wenig glücklichen Tradition europäischer Kunstkritik des späten 19. Jahr-
hunderts wurde diese Wirkung mit dem Erklärungsmodell einer psychologisch
begründbaren Transzendenz verknüpft.10 Ich wiederhole: Das Außergewöhnliche,
Romantische, Charismatische, Bezaubernde ist nicht mein Anliegen. Bezauberung
ist eine Art höherer Gewalt, die auf einen Empfänger einwirkt und seine rationalen
Kapazitäten außer Gefecht setzt. Ich gehe dagegen von einem Übereinkommen
aus, von einer gegenseitigen Verpflichtung. Rhetorische Überzeugung hat nichts
mit Zauberei zu tun, sie setzt vielmehr eine Verbindung von Verstand und Emotion
voraus, eine aktive und keine passive Einstellung gegenüber den Dingen.
Regungen, Einstellungen oder Haltungen sind „Affekte“.11 Dabei stehen Affekte
(affectus) Regungen und Empfindungen näher als dem, was als Emotion oder Lei-
denschaft zu bezeichnen wäre. Ihr Verständnis wird erleichtert, wenn man sie im
Zusammenhang mit der rhetorischen Praxis betrachtet, denn die Rhetoriklehre ist
sich der Verbindung zwischen Emotion, Anteilnahme und Überzeugung bewusst
und bedient sich ihrer. Kunst als eine Form öffentlicher Rede mag funktionieren,
indem sie eine Stimmung erzeugt, aber ihr Ziel ist es letztlich, etwas wieder einzu-
gliedern oder einzusetzen und vor allem zu überzeugen. Diese Differenzierung von
Funktion und Ziel ist nützlich, gerät aber gern aus dem Blick. Ein Portal ist nicht
nur eine Schwelle: Es ist ein exordium oder ein introitus, eine einleitende Aussage,
die den rechten Ton oder die rechte Stimmung für das Folgende festlegt, ähnlich
anzutreffen in einem Hochamt oder einer illuminierten liturgischen Handschrift.12
Der Betrachter soll zuerst in den Bann gezogen und günstig gestimmt werden, was
Rhetoriker als captatio benevolentiae bezeichnen. Cicero etwa (Cic. inv. I, 20) sagt
uns, dass ein exordium den Zuhörer benivolum, attentum, docilem – wohlwollend,
aufmerksam, aufnahmebereit (wörtlich „belehrbar“) – machen will, ein Ziel, das
auch in den mittelalterlichen artes praedicandi oder Predigerhandbüchern formu-
liert wird.13 Dieses In-den-Bann-Ziehen setzt eine Art von Erregung voraus, die ei-
nen Stimulus verlangt. So wie beim Aufschlagen der Eingangsseiten einer großfor-
matigen illuminierten mittelalterlichen Handschrift das erste Aufblitzen von Gold,
Mary Carruthers (Hg.): Rhetoric Beyond Words. Delight and Persuasion in the Arts of
the Middle Ages. Cambridge 2010, S. 190–213.
9 Alfred Gell: The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology. In:
Jeremy Coote / Anthony Shelton (Hg.): Anthropology, Art and Aesthetics. Oxford 1992,
S. 40–63.
10 Wilhelm Worringer: Formprobleme der Gotik. München 1912, S. 48–54: „Transzendenta-
lismus der gotischen Ausdruckswelt“, auch S. 73–81, 114–118 „Psychologie der Scholastik“.
11 Carruthers: Experience of Beauty (wie Anm. 3), S. 45–46.
12 Mary Carruthers: The Craft of Thought: Meditation, Rhetoric and the Making of
Images, 400–1200. Cambridge 1998, S. 222–223. Eine liturgische Studie zu diesem The-
ma bietet Margot Fassler: Liturgy and Sacred History in the Twelfth-Century Tympana
at Chartres. In: Art Bulletin 73/3 (1993), S. 499–520.
13 Cicero: De inventione, I. 20 (übersetzt von Harry M. Hubbell). Cambridge (MA) 2006
(Loeb Classical Library 386), S. 40: Exordium est oratio animum auditoris idonee compa-
rans ad reliquam dictionem; quod eveniet si eum benivolum, attentum, docilem confecerit.
Zur ars praedicandi siehe Ameijeiras, Los rostros de las palabras (wie Anm. 3).
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken