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paul Binski
an das Ganze, ein Einebnen der persönlichen Reaktion. Gesetze sind ein mögli-
cher Ausdruck dessen, was öffentliche Übereinkunft konstituieren kann. Als um
1140 ein Abschnitt über die Berechtigung von Bildern aus dem zweiten Brief Papst
Gregors des Großen an Serenus von Marseille Eingang in die Kirchenrechtssamm-
lung des Decretum Gratiani fand, war dies ein entscheidender Schritt, denn das
Decretum als allgemeingültiges, leicht zugängliches Referenzwerk des kanonischen
oder Kirchenrechts erfuhr rasch weite Verbreitung.21 Die gregorianische, demnach
patristische, Doktrin, die im Decretum zusammengefasst und verbreitet wurde, ist
hilfreich für uns, denn sie befasst sich mit der Verbindung von Kunsterfahrung und
dem Nutzen von Kunst, also damit, welche Arbeit Kunstwerke leisten und wozu
sie dienen. Gregors zweiter Serenusbrief ist eine der frühesten und wichtigsten
Aussagen über die Aufgabe der Kunst, Dinge ebenso wie Worte „gegenwärtig“ zu
machen und dadurch Affekte und Devotion hervorzurufen.22 Er betont eigens, dass
der Anblick einer Tat eine Gemeinschaft zu brennender Reue und anschließend
zu demütiger Hingabe führen könne. Hier ist die Reihenfolge bemerkenswert: Er-
leben – Emotion – Verhalten. Die Schlüsselposition, die Gregor der Nützlichkeit
oder Funktionalität von Kunst beimisst – Bilder seien keine zu verehrenden Ob-
jekte, sondern nützliche Werkzeuge – führt uns zu der „Arbeit“, die Bilder leisten,
in gleichem Maße wie zu den Lehren oder der Doktrin, die sie vermitteln mögen.
Kunstwerke können demnach eine occasio hervorrufen und unsere Gedanken
und Gefühle lenken, aber das ist nicht ihr Zweck oder Ziel. In Gregors Worten
ebenso wie in vielen weiteren Aussagen aus dem gesamten Mittelalter ist das Bewe-
gen oder Aufregen eine wichtige Funktion von Kunstwerken (ornamenta), die auf
den Glauben ausgerichtet sind.23 Aufgabe des Historikers ist jetzt, herauszufinden,
wie sich dies in kritischen Untersuchungen umsetzen lässt. Wir haben keine ein-
deutigen Belege dafür, wie wir uns die ästhetische Einlassung auf Portalskulptur
in der Hochzeit ihrer Entstehung in Frankreich, auf der iberischen Halbinsel, in
Deutschland oder Italien vorzustellen haben. Freilich gibt es ein oder zwei zuge-
gebenermaßen bestechende Ausnahmen. Ein der Kunstgeschichte wohlbekanntes
Beispiel stammt aus dem Territorium des Hauses Plantagenet im westlichen Frank-
reich. Es ist in der Magna vita des heiligen Hugo von Lincoln enthalten, die vor
1220 von dem englischen Mönch Adam von Eynsham verfasst wurde.24 Im Jahr
1199 besuchte Johann, inzwischen König von England, zusammen mit Hugo die
Abtei Fontevrault. Gemeinsam hielten Hugo und Johann vor dem Kirchenportal
inne, über dem das Relief eines gewaltigen Jüngsten Gerichts prangte. Hugo führte
Johann an der Hand auf die linke Seite der Figur des thronenden Gerichtschristus,
wo Könige im vollen Ornat unter den Verdammten erschienen, die von Dämonen
in die Hölle geschleppt wurden. Der Bischof sagte zu Johann, er solle stets ihr Ge-
21 Creighton Gilbert: The Saints’ Three Reasons for Paintings in Churches. Ithaca 2001,
S. 11–12.
22 S. Gregorii Magni Registrum epistularum, hg. von Dag Norberg, Turnhout 1982 (Cor-
pus Christianorum, Series Latina, Bd. 140), S. 873–876, Ep. 11 (10).
23 Zu einer wichtigen Untersuchung gotischer Skulptur im Hinblick auf diese Vorgaben
siehe Bruno Boerner: Bildwirkungen. Die kommunikative Funktion mittelalterlicher
Skulpturen. Berlin 2008.
24 Magna Vita Sancti Hugonis. The Life of St Hugh of Lincoln, hg. von Decima L. Douie
/ Hugh Farmer, Bd. 2, Oxford 1985, S. 137–144 (Kap. XI).
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken