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affEkt in dEr Gotik
heul und ihre immerwährenden Qualen im Sinn haben und vor die Augen seines
Herzens führen, denn durch die wiederholte Erinnerung daran würde er die Wich-
tigkeit der Selbstkontrolle für Regierende erlernen. Hugo fügte hinzu, dass derarti-
ge Bilder aus gutem Grund an den Eingang von Kirchen gesetzt würden: Diejeni-
gen, die im Begriff seien, einzutreten und zu Gott zu beten, sollen vollumfänglich
ihr eigenes Ende verstehen und um Vergebung bitten, um sich so die ewige Freude
zu sichern. Der Bischof nahm den König ein weiteres Mal bei der Hand und wies
ihn auf die – gut sichtbar gekrönten – Könige auf der anderen Seite Christi hin, die
hier in seligem Glück von Engeln gen Himmel geführt wurden.
Die Zwickmühle hier ist natürlich die Wahl. Was Johann angesichts oder auf-
grund der steinernen Abbildung fühlt, wird nicht erwähnt. Was jedoch erwähnt
wird, sind die Affekte oder besser, die affektgesteuerten Handlungen, die den
steinernen Königen zugeschrieben werden: ihr Heulen, ihre Qualen, ihr seliger
Eintritt in den Himmel. Affekte werden hier verbal oder adverbial verwendet, als
Ausdruck für Tätigkeiten und Erfahrungen. Das Detail von Hugo, der Johann an
der Hand nimmt und ihn um die Skulptur herumführt, während er sie erklärt,
macht deutlich, dass wir es mit einer klassischen ekphrasis zu tun haben, einer
anschaulichen Beschreibung. Das Formen überzeugungskräftiger mentaler Bilder,
die Betonung des Eindrucks auf die Augen des Herzens und des Geistes, all dies
sind verbreitete mittelalterliche und noch ältere Gemeinplätze. Die Magna vita be-
schwört das Bild eines Jüngsten Gerichts, wie es sicher in der Malerei und Skulp-
tur der Zeit vor 1200 existiert hat, und in dem die verschiedenen gesellschaftlichen
Schichten oder Stände gezielt eingesetzt wurden, um die Aussage zu verdeutlichen.
Tatsächlich wurden in den 1980er Jahren in Fontevrault selbst Überreste eines far-
big gefassten Skulpturenportals mit dem Jüngsten Gericht aus der Zeit um 1200
entdeckt (Abb. 4).25
Dieses lebendige und sehr außergewöhnliche Beispiel eines zeitgenössischen Ge-
sprächs vor einem gotischen Kunstwerk illustriert, was mit rhetorischer Überzeu-
gung gemeint ist. Der Text beschreibt eine occasio oder Standardszene und disku-
tiert dann ein Kunstwerk und dass eine bestimmte Absicht damit verfolgt wird. Die
Schlüsselstelle des Fontevrault-Passus ist der Einsatz des Vergleichs, von den Grie-
chen als synkrisis oder epideiktische Rhetorik bezeichnet. Bilder von Himmel und
Hölle stellen das beste und schlimmste mögliche Ende einander so gegenüber, dass
wir nach dem Guten verlangen. Hugo bedient sich in vollem Umfang der synkrisis,
wenn er Johann bei der Hand nimmt und ihm zeigt, dass seine unausweichliche
Zukunft direkt von seinem Verhalten abhängt. Aber obwohl diese Kunstwerke den
jeweiligen Ausgang zeigen und Hinweise geben, können sie keine Wahl diktieren,
auch wenn sie diese vielleicht vorschreiben. Wir müssen nachdenken, werden zu
Überlegungen angeregt. Die Aufgabe des Kunstwerkes ist anzuleiten, eine Stim-
mung oder Disposition hervorzurufen durch die occasio und die Kunstfertigkeit
seiner Ausführung. Dies verlangt vom Betrachter eine Denkleistung. Jedes delibe-
rative Rhetorikmodell, ob antik oder christlich, wird Logos und Pathos verbinden,
25 Fabienne Joubert: La sculpture Gothique en France. XIIe–XIIIe siècles. Paris 2008,
S. 77–78, fig. 54, col. pl. XI; Léon Pressouyre / Daniel Prigent: Le jugement dernier de
Fontevraud. In: Comptes rendus des séances de l’année Académie des Inscriptions et
Belles-Lettres 3 (1989), S. 804–809. Abb. 4: Jüngstes Gericht (Frag-
ment) in Fontevrault, ca. 1200
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken