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affEkt in dEr Gotik
des höfischen Lebens und neuerdings auch zur Kunstgeschichte gezeigt haben, war
die Aussöhnung von äußerer und innerer „Form“ ein zentrales Anliegen. Dies ge-
schah durch imitatio. Zivilisationshistoriker haben als Grundlage der Gesetzmäßig-
keiten von moralischer Kunstfertigkeit und Erziehung die antike Vorstellung von
Nachdenken und Nacheifern (mimēsis, zēlos) zur Bildung des Charakters (ethos) he-
rausgearbeitet. Nach der antiken und mittelalterlichen Lehre war das Äußere einer
Person ein Spiegel- oder Abbild des Inneren, aber auch das Innere konnte durch die
Übernahme richtig gestalteter Ideen, Praktiken oder anderer Dinge, die es nachbil-
dete, geregelt werden. Maßgeblich für diesen in zwei Richtungen verlaufenden Pro-
zess war die Vorstellung, dass eine Selbstregulierung kulturell determiniert, lehrbar,
kodifiziert und artifiziell sei. Die Geschichte der Darstellung von Emotionen sollte
nicht verwechselt werden mit einer naturalistischen Theorie der Emotionen, die in
ihnen etwas Spontanes sieht.29
Interessanterweise bezieht sich das früheste objektive Zeugnis für die gotische
Kunst als Träger von moralitas auf Skulpturen und nicht auf Malerei. Es stammt
von einem englischen Grammatiker, der im Paris der Mitte des 13. Jahrhunderts
wirkte, nämlich von Johannes de Garlandia (Johannes Anglicus), und findet sich
in seinem Morale scolarium, de facto einer Art Moralcodex für Schüler. In seinem
30. Kapitel wiederholt er die Normen für ordentliches Klerikerverhalten und
schlägt ein Beispiel dafür vor:
Templi sculpturas morum dic esse figuras
Vivas picturas in te gere non perituras
Von den Skulpturen der Kirchen sage, dass sie Bilder der Sitten sind;
in dir trage lebendige Gemälde statt solche, die zerstörbar sind.30
Das erinnert uns daran, dass drei- und zweidimensionale Bilder bis hin zu Siegelab-
drücken als Vermittler ethischer Anleitungen durch Imitation angesehen wurden,
und zwar von Lehrern des 12. Jahrhunderts wie Hugo von St. Victor (De instituti-
one novitiorum) und Alanus ab Insulis (Anticlaudianus).31 Die Vorstellung, dass in
den Raum ausgreifende Werke der Bildhauerei Tugenden verkörperten, wurde im
späten 13. Jahrhundert von Durandus in seinem Rationale zusammengefasst. Nach
seinen Worten scheinen vorstehende Skulpturen aus den Wänden der Kirchen her-
auszukommen, wie die Tugenden, die in die Gläubigen gleichsam eingepflanzt sind
Europe, 950–1200. Philadelphia, PA 1994; Binski: Becket’s Crown (wie Anm. 16), mit
einer Besprechung der Auswirkungen dieses Phänomens auf die bildenden Künste.
29 Rosenwein, Worrying about Emotions in History (wie Anm. 2), S. 834–837.
30 Morale Scolarium of John of Garland, hg. von Louis John Paetow. In: Memoirs of the
University of California 4 (1927), S. 69–273, 243–244; Iohannes de Garlandia: Carmen
de Misteriis Ecclesie, hg. von Ewald Könsgen / Peter Dinter. Leiden 2004 (Mittellateini-
sche Studien und Texte 32), S. 6:
Quid significat porta ecclesia:
Ecclesie porta Ihesus est, qui sidera pandit;
Suppositos aliis doctores dico columpnas
Templi sculpturas morum dic esse figuras
Vivas picturas animarum non perituras
31 Jaeger, The Envy of Angels (wie Anm. 28), S. 258–259, 284–286.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken