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affEkt in dEr Gotik
Wir kommen hier zu einer zentralen Fragestellung der Geschichte von Emotionen
und ihrer Darstellung. Bradwardine behandelt Emotionen wie Freude oder Trau-
rigkeit wie Eigenschaften eines Bildes. Aber ein Kunstwerk, das kein Leben und
damit auch kein inneres Leben besitzt – jedenfalls nicht für Rationalisten – kann
keine derartigen Eigenschaften haben, und es kann auch nicht moralisch handeln.
Freude, Fröhlichkeit, Trauer, Verzweiflung sind Aktionen und keine festen Zustän-
de, wir schreiben sie Bildern zu. Das hat unsere vorhin geschilderte Begegnung in
Fontevrault nahegelegt: Die guten und bösen Könige im Jüngsten Gericht leben
Gefühle aus, dies freilich dauerhaft. Trotz scholastischer Klarheit über die Wesens-
art der Affekte und die Vorzüge von Wohltätigkeit und Erbarmen des Einzelnen
und untereinander, ist es noch ein weiter Weg herauszufinden, welche Leidenschaf-
ten von dreidimensionalen Bildern kluger und törichter Jungfrauen wie jenen in
Magdeburg oder Erfurt dargestellt werden können. Ausgangspunkt muss hier die
Beschreibung in Matthäus 25,1–13 sein. Hier scheinen uns zunächst vielleicht Freu-
de oder Hoffnung als Gegensätze von Traurigkeit oder eher noch Verzweiflung ent-
gegenzutreten. Im weiten Spektrum von Freude oder Zufriedenheit im Sinne des
Gegenteils von Verzweiflung mag etwas „irgendwie passen“, nur sollten wir diese
Zustände als Handlungen verstehen – etwa „freudig sein“ als Gegensatz zu „ver-
zweifeln“. Diese Handlungen haben Hinweisfunktion: Sie können auf einen Affekt
hinweisen oder ihn hervorrufen, und sie können auch als Auslöser für biblische
Reminiszenzen in Form von imagines verborum fungieren.
Wir sehen aber sofort, dass in dieses Ratespiel um figurae durch die Betrachter
eine nur ungenau einschätzbare Größe involviert ist, denn Hinweise oder Aussagen
benötigen ein Gegenüber, einen Empfänger. Selbst wenn wir beurteilen können,
welche Leidenschaften gezeigt sind, bleibt zu fragen, wie diese von den Betrach-
tern aufgenommen wurden. Eine moderne psychologische Beschreibung dieses
Austauschprozesses würde fast sicher von den Vorstellungen der Empathie und
Sympathie ausgehen. Der Anblick einer weinenden oder trauernden Frau soll uns
natürlicherweise und spontan zu ihr hinziehen, wie selbstverständlich.
Das Problem ist, dass dies eben nicht selbstverständlich ist. Die historische Di-
stanz zu den Werken stellt eine Schwierigkeit dar. Das Auslösen von Emotionen
in Menschen führt nicht zwangsläufig dazu, sie brüderlicher oder mildtätiger zu
stimmen. Empathie ist nicht zwangsläufig die bestimmende Voraussetzung für mo-
ralisch positives Verhalten.38 Dieses Problem wird in der bekannten Diskussion in
der Quaestio 94 im Anhang zu Teil 3 der Summa theologiae des Thomas von Aquin
behandelt. Dort wird gefragt, ob die Seligen im Himmel oder die Sterblichen recht
daran tun, beim Anblick der Höllenqualen der Verdammten entweder Mitleid oder
Jubel zu empfinden.39 Thomas schließt seine Antwort mit der Feststellung ab, dass
sie jubeln dürfen, wenn dies der Gerechtigkeit Gottes gilt. Entsprechend ist ein
Jubel über die missliche Lage der Törichten, die üblicherweise auf die Seite der Ver-
dammten gestellt werden, für die das Tor verschlossen ist und die in Ewigkeit trau-
38 Jesse Prinz: Against Empathy. In: Southern Journal of Philosophy 49/suppl. 1 (Spindel
Supplement: Empathy and Ethics) (2011), S. 214–233; Paul Bloom: Against Empathy:
the Case for Rational Compassion. London 2016.
39 Supplementum Tertiae Partis Summa Theologiae dans Sancti Thomae Aquinatis. Opera
Omnia. Editio Leonina, Rome 1906, S. 226–227 (Qu. XCIV, art. III).
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken