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Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
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29 affEkt in dEr Gotik Affekt und „Realismus“ Mein Insistieren darauf, dass Portale nicht Anlässe für individuelle Empfindun- gen sind, sondern Denkmäler, die sich an eine Öffentlichkeit richten, zielt darauf, rhetorische Erfahrung als Ausgleich von Rationalität und Emotionalität zu ver- stehen. Sowohl das Erschaffen von Kunstwerken als auch deren Rezeption sind als reguläre Tätigkeiten zu betrachten. Dies basiert auf meiner Skepsis gegenüber dem, was in der Mittelalterforschung speziell zum 11. bis 13. Jahrhundert als „Affec- tive Turn“ bezeichnet wird,42 bei dem es um eine intensivierte Emotionalität geht, die als Begleiterscheinung der geänderten Schwerpunktsetzungen in der Theologie gesehen wird, die die Menschlichkeit ebenso wie die Göttlichkeit Christi betont und den irdischen Freuden und Leiden Christi und seiner Mutter verstärkt Auf- merksamkeit schenkt (Abb. 9). Hinzu kommen individuellere, innigere persönliche Andacht und andere Formen der Religionsausübung, die mit einer zunehmenden Beteiligung von Laien einhergehen. Als Schlüsselfiguren in dieser groß angelegten Erzählung von der „neuen Emotionalität“ werden häufig die Namen der Heiligen Anselm, Bernhard und Franziskus genannt; ferner wird auf den gewichtigen Bei- trag der weiblichen Frömmigkeit hingewiesen. Die einschlägigen Vertreter dieser Schule reichen von Émile Mâle, Frederic Raby und Richard Southern bis in die heutige Zeit. In der Auseinandersetzung mit dieser außerordentlich weitverbreiteten Sicht- weise möchte ich mich auf folgende allgemeine Beobachtungen beschränken: Erstens ist der „Affective Turn“ eindeutig von naturwissenschaftlichem und in- dividualistischem Gedankengut geprägt. Einer der ihm eigenen rhetorischen Züge ist die leichtfertige Anwendung auf Kunstwerke, vor allem auf Kruzifixe und Ma- donnenbilder, die zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert entstanden sind. Den Grundstein für die durchaus attraktive Vorstellung hat Mâle mit seiner naturalis- tisch geprägten Schilderung der gotischen Kunst gelegt, der er unverfälschte emo- tionale Aufrichtigkeit zuschreibt und den Übergang von der Doktrin zum Gefühl. Richard Southern sah eine vorausgegangene Intensität menschlicher Empfindung, deren Darstellung Künstlern des späten 11. Jahrhunderts allmählich gelungen war.43 Diese Denkweise hat einen ausgeprägt kunsthistorischen Charakter, der aus einer unausgesprochenen zugrundeliegenden Wiedergabetheorie resultiert. Die Vorstel- lungen von der Wiedergabe der Emotionen sind im Wesentlichen realistisch oder sogar expressionistisch und wurzeln in romantischen und nachromantischen An- schauungen von Emotion, Repräsentation und Indexikalität. Der „Affective Turn“ wird als offensichtliche Gegebenheit betrachtet, die durch überzeitliche wieder- 42 Frederic J. E. Raby: A History of Christian-Latin Poetry from the Beginnings to the Close of the Middle Ages. Oxford 1953; Richard W. Southern: The Making of the Mid- dle Ages. London 1953; Richard Kieckhefer: Unquiet Souls: Fourteenth-Century Saints and Their Religious Milieu. Chicago / London 1984; Sarah Beckwith: Christ’s Body: Identity, Culture and Society in Late Medieval Writings. London / New York 1993; Thomas H. Bestul: Texts of the Passion: Latin Devotional Literature and Medieval So- ciety. Philadelphia 1996; Rachel Fulton: From Judgment to Passion: Devotion to Christ and the Virgin Mary. New York 2002; Sarah McNamer: Affective Meditation and the Invention of Medieval Compassion. Philadelphia 2010. 43 Southern, Making of the Middle Ages (wie Anm. 42), S. 226–227. Abb. 9: Virgen Blanca in der Kathedrale von Toledo, 1260er Jahre (Detail)
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Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
Titel
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
Autor
Christine Beier
Herausgeber
Michaela Schuller-Juckes
Verlag
Böhlau Verlag
Ort
Wien
Datum
2020
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-205-21193-8
Abmessungen
18.5 x 27.8 cm
Seiten
290
Kategorien
Geschichte Chroniken
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