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paul Binski
erkennbare Zeichen belegt ist. Dabei wird auf der Suche nach dem Natürlichen,
Echten übersehen, dass jede Wiedergabe von Affekten zwangsläufig konstruiert ist.
Vernachlässigt wurde auch die Herkunft der christlichen Affektsprache oder Af-
fektivität. Hinzu kommt, dass sich zunehmend die Erkenntnis durchsetzt, dass die
„neue Emotionalität“ des Hochmittelalters zu großen Teilen auf den Texten spätan-
tiker Rhetoriker basiert. Mit anderen Worten, sie ist um ein Vielfaches älter als
das, was uns seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als die gefühlsbetonte, realistische
Praxis speziell der mittelalterlichen Kunst präsentiert wird.
Zweitens ist die Vorstellung, dass die mit dem gotischen Pathos verknüpften
Veränderungen von einer vorangegangenen Neuausrichtung des Empfindungsver-
mögens verursacht wurden – das sich zum Beispiel nach Southern in einer ge-
nerellen Veränderung der Gesinnung und des spirituellen Antriebs zeigte – ein
Zirkelschluss. Der Charakter der gotischen Kunst wird mit einem sentiment re-
ligieux erklärt, den man dann in den Werken wiederfinde, wie F. P. Pickering in
seiner grundlegenden Untersuchung zu Textquellen über Kreuzigungsdarstellun-
gen anmerkt: Die Entwicklung der Emotionen könne nicht zugleich Ursache und
Ergebnis dessen sein, was wir in der Kunst beobachten.44 Am Realismus orientierte
Theorien über die „neue Emotionalität“ im späten Mittelalter laufen immer Ge-
fahr, zu vage zu bleiben, intuitiv zu argumentieren oder, bei aller „realistischen“
Ausrichtung, einer unklaren Vorstellung vom Wesen des Realismus selbst zum Op-
fer zu fallen. Sie können im Übrigen auch nicht begründen, warum viele Elemente
des „Affective Turn“ schon lange vor der Gotik in den Schriften frühchristlicher
Theologen und Rhetoriker auftauchen.45
In methodischer Hinsicht muss darauf hingewiesen werden, dass die Kraft rhe-
torischer Stilmittel in ihrer Kunstfertigkeit mit keinem der möglichen Komplexe
von Wiedergabekonventionen einen ursächlichen Zusammenhang aufweist. Die
Vorstellung von Affekt als einer absichtsvoll auf etwas ausgerichteten Haltung setzt
ein Agieren sowohl auf der Seite des Objekts als auch des betrachtenden Subjekts
voraus. Es ist nützlich, zwischen dem Agieren von Objekt und Subjekt zu unter-
scheiden. Das hilft dabei, zu verstehen, wie Bilder, die wir als farb- und ausdrucks-
los empfinden, eine tragende Rolle in der mittelalterlichen religiösen Anschauung
und Andacht spielen konnten und demnach eine entsprechende Wirkung besessen
haben müssen, für die sie geschaffen worden waren. Ein Beispiel sind Meditations-
oder Andachtsbilder mit nur wenigen hinweisenden Beigaben, die nichtssagend
wirken, aber auf die dennoch intensive Leidenschaften und Betrachtungen proji-
ziert werden konnten. Charakteristisch dafür sind Bilder von Christi Antlitz, wie
jenes, das um 1250 von dem englischen Künstlermönch Matthaeus Parisiensis in
St. Albans entworfen wurde.46 Man kann sagen, je allgemeiner in seiner inhaltli-
44 Southern, Making of the Middle Ages (wie Anm. 42), S. 211–212; dagegen Frederick P.
Pickering: Literature & Art in the Middle Ages. Coral Gables (FLA) 1970, S. 223–224.
45 Pickering, Literature & Art (wie Anm. 42), S. 245–246, 275–276, 282–284; Fulton, Judg-
ment to Passion (wie Anm. 42), S. 216–218; Mary A. Edsall: The Arma Christi before the
Arma Christi: Rhetorics of the Passion in Late Antiquity and the Early Middle Ages. In:
Andrea Denny-Brown / Lisa H. Cooper (Hg.): Arma Christi: Objects, Representation,
and Devotional Practice in Medieval and Early Modern Culture. Burlington VT 2014,
S. 21–52.
46 Paul Binski: The Faces of Christ in Matthew Paris’s Chronica Majora. In: Jeffrey F. Ham-
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken