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affEkt in dEr Gotik
chen Aussage das Objekt oder das Abbild gehalten ist, desto stärker war die ergän-
zende Vorstellungskraft des betrachtenden Subjekts gefordert, desto intensiver und
unmittelbarer fiel der Anteil des Betrachters aus.
Im Zeitraum zwischen der Errichtung des Pórtico de la Gloria der Kathedrale
von Santiago de Compostela in den 1180er Jahren und der Gestaltung der Skulptu-
ren an der Westfassade von Reims veränderte sich der „Portal Talk“ zunehmend in
Richtung Aktion, Abwechslung und Beweglichkeit von Mimik, Haltung und Ges-
tik. Das Resultat war zumindest für moderne Betrachter eine neuerliche Konzen-
tration auf jene Körperteile, die gemeinhin als besonders ausdrucksfähig und be-
deutungstragend angesehen werden: im Wesentlichen Köpfe und Hände. Ich habe
den Eindruck, dass die Werke in Reims in diesem Prozess besonders wichtig waren.
Wir brauchen eine andere Erklärung für die massive, sehr überraschende Zunahme
von „indexikalischem“ Naturalismus in der Skulptur und nur wenig später in der
Malerei. Es gibt hier keine einfache Lösung, es sei denn, man nimmt etwas sehr
Wichtiges hinzu, etwas, das gänzlich außerhalb der Absicht dieses Aufsatzes liegt:
Nämlich die Vorstellung, dass die gotische Kunst im Wesentlichen eine technolo-
gische Errungenschaft der hochspezialisierten Dombauhütten in Frankreich und
dem Heiligen Römischen Reich zwischen 1150 und 1300 ist. Die „Erklärungen“ für
das, was wir heute als Naturalismus empfinden, wäre damit rein technischer Natur
und hätte mit Affekt und Psyche überhaupt nichts zu tun. Diese Sichtweise mag
als nicht zeitgemäß erscheinen, aber deshalb muss sie nicht falsch sein. Sie wäre
zweifellos eine eigene Untersuchung wert. Für diese Idee von den Dombauhütten
als einer speziellen Art von „Effekt-Laboratorien“ spricht die Beobachtung, dass
einige der auffälligsten Veränderungen in der Malerei und Buchmalerei der Zeit
um 1230–1260 in Frankreich und später in England und Deutschland zuerst an den
Skulpturenportalen auftauchen.
Die These, die Ära der Körpersprache habe erst in den bildenden Künsten des
„naturalistischen“ 13. Jahrhunderts ihren Ausgang genommen, ist nicht mehr
haltbar. Der Körper war ein Ausdruckmittel der Rede im rhetorisch beeinflussten
klassischen Ethiksystem, welches das moralische Denken während des gesamten
Hoch- und Spätmittelalters prägte. Der kompositorische Aufbau und die Anord-
nung von Figuren konnten in diesen Jahrhunderten als Hinweise auf Ordnun-
gen, Hierarchien, Bedeutungen und Tonfall dienen. Allerdings wird das nicht gern
zugegeben, weil Realismus in der von einer fortschreitenden Entwicklung ausge-
henden geschichtlichen Narration mit dem Aufkommen von Freiheit, emotiona-
ler Bewusstwerdung und Individualität verbunden wird, allem, was wir mit der
Renaissance und den folgenden Jahrhunderten assoziieren. Ich denke, dass dieser
Entwurf einer emotionalen und rhetorischen Chronologie so nicht stimmt. Der
gotische „Naturalismus“ ist keine zwangsläufige Folge der „neuen Emotionalität“,
und diese wiederum ist kein Zeichen, das in Richtung Gotik weist. Die Theologie,
die sich mit Affekten befasste, war lange vor den Bildern „realistisch“. Zudem lässt
die derzeit vorherrschende Interpretation der Kunstwerke als Ausdruck psychologi-
scher und emotionaler Befreiung außer Acht, dass dieser Wesenszug der Kunst eine
burger / Anna S. Korteweg (Hg.): Tributes in Honour of James H. Marrow. Studies in
Painting and Manuscript Illumination of the Late Middle Ages and Northern Renais-
sance. London / Turnhout 2006, S. 85–92.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken