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Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
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31 affEkt in dEr Gotik chen Aussage das Objekt oder das Abbild gehalten ist, desto stärker war die ergän- zende Vorstellungskraft des betrachtenden Subjekts gefordert, desto intensiver und unmittelbarer fiel der Anteil des Betrachters aus. Im Zeitraum zwischen der Errichtung des Pórtico de la Gloria der Kathedrale von Santiago de Compostela in den 1180er Jahren und der Gestaltung der Skulptu- ren an der Westfassade von Reims veränderte sich der „Portal Talk“ zunehmend in Richtung Aktion, Abwechslung und Beweglichkeit von Mimik, Haltung und Ges- tik. Das Resultat war zumindest für moderne Betrachter eine neuerliche Konzen- tration auf jene Körperteile, die gemeinhin als besonders ausdrucksfähig und be- deutungstragend angesehen werden: im Wesentlichen Köpfe und Hände. Ich habe den Eindruck, dass die Werke in Reims in diesem Prozess besonders wichtig waren. Wir brauchen eine andere Erklärung für die massive, sehr überraschende Zunahme von „indexikalischem“ Naturalismus in der Skulptur und nur wenig später in der Malerei. Es gibt hier keine einfache Lösung, es sei denn, man nimmt etwas sehr Wichtiges hinzu, etwas, das gänzlich außerhalb der Absicht dieses Aufsatzes liegt: Nämlich die Vorstellung, dass die gotische Kunst im Wesentlichen eine technolo- gische Errungenschaft der hochspezialisierten Dombauhütten in Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich zwischen 1150 und 1300 ist. Die „Erklärungen“ für das, was wir heute als Naturalismus empfinden, wäre damit rein technischer Natur und hätte mit Affekt und Psyche überhaupt nichts zu tun. Diese Sichtweise mag als nicht zeitgemäß erscheinen, aber deshalb muss sie nicht falsch sein. Sie wäre zweifellos eine eigene Untersuchung wert. Für diese Idee von den Dombauhütten als einer speziellen Art von „Effekt-Laboratorien“ spricht die Beobachtung, dass einige der auffälligsten Veränderungen in der Malerei und Buchmalerei der Zeit um 1230–1260 in Frankreich und später in England und Deutschland zuerst an den Skulpturenportalen auftauchen. Die These, die Ära der Körpersprache habe erst in den bildenden Künsten des „naturalistischen“ 13. Jahrhunderts ihren Ausgang genommen, ist nicht mehr haltbar. Der Körper war ein Ausdruckmittel der Rede im rhetorisch beeinflussten klassischen Ethiksystem, welches das moralische Denken während des gesamten Hoch- und Spätmittelalters prägte. Der kompositorische Aufbau und die Anord- nung von Figuren konnten in diesen Jahrhunderten als Hinweise auf Ordnun- gen, Hierarchien, Bedeutungen und Tonfall dienen. Allerdings wird das nicht gern zugegeben, weil Realismus in der von einer fortschreitenden Entwicklung ausge- henden geschichtlichen Narration mit dem Aufkommen von Freiheit, emotiona- ler Bewusstwerdung und Individualität verbunden wird, allem, was wir mit der Renaissance und den folgenden Jahrhunderten assoziieren. Ich denke, dass dieser Entwurf einer emotionalen und rhetorischen Chronologie so nicht stimmt. Der gotische „Naturalismus“ ist keine zwangsläufige Folge der „neuen Emotionalität“, und diese wiederum ist kein Zeichen, das in Richtung Gotik weist. Die Theologie, die sich mit Affekten befasste, war lange vor den Bildern „realistisch“. Zudem lässt die derzeit vorherrschende Interpretation der Kunstwerke als Ausdruck psychologi- scher und emotionaler Befreiung außer Acht, dass dieser Wesenszug der Kunst eine burger / Anna S. Korteweg (Hg.): Tributes in Honour of James H. Marrow. Studies in Painting and Manuscript Illumination of the Late Middle Ages and Northern Renais- sance. London / Turnhout 2006, S. 85–92.
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Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
Titel
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
Autor
Christine Beier
Herausgeber
Michaela Schuller-Juckes
Verlag
Böhlau Verlag
Ort
Wien
Datum
2020
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-205-21193-8
Abmessungen
18.5 x 27.8 cm
Seiten
290
Kategorien
Geschichte Chroniken
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