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zackEnstil dEs südEns
nen, die von den drei Kinnen tropfen, erinnern das Publikum an Luzifers Sünden-
fall und Elend. Und anders als beim Riesen im Mosaik wirkt seine Aktivität nicht
selbstbestimmt. Interpreten denken an ein mechanisches Etwas: Gmelin spricht
von einer „allegorischen Riesenmaschine“, Chiavacci Leonardi von einer „stum-
men Maschine“, Flasch von einer „Kältemaschine“.12 Dis-Luzifer führt den Titel
Höllenkaiser, aber er füllt ihm nicht aus. Wie im Bild das Thronen ist bei Dante
die Titulatur eine Travestie, deren Fallhöhe aber erzählend veranschaulicht wird.
Novelle dell’altro mondo
Dantes Einfälle, was ihm auf der Wanderung durch Hölle, Fegefeuer und himm-
lisches Paradies begegnet, haben die Vorstellungswelt der Europäer erheblich be-
reichert. Aber kreative Leistungen finden sich schon unter den Praetexten – nicht
zuletzt gibt es die im Regensburg des mittleren 12. Jahrhunderts aufgezeichneten
Erlebnisse des irischen Edlen Tnugdal (Tundal, Tondol), deren ins Detail gehen-
de Drastik alle älteren Berichte über die schlimmen Regionen des Jenseits in den
Schatten stellte,13 einschließlich dessen, was von den Visiten des Aeneas und des
Paulus bekannt war, auf die sich Dante in der Commedia explizit bezieht. Auch war
die Visio Tnugdali nicht nur populär, die auszugsweise Wiedergabe im Speculum
historiale des Vinzenz von Beauvais (einschließlich der Luzifer-Passage: XXVIII,
97) zeigt, dass sie als ein geradezu kanonischer Text zum Jenseits-Wissen galt.14
Wo Dante bei der Kreation seiner Luzifer-Figur Tnugdals Zeugnis berücksichtigte,
hielt er sich an eine damals naheliegende Quelle.
Für den visuellen Praetext gilt zunächst Ähnliches. Dante war unter dem
grauschwarzen Horror-Riesen im Florentiner Baptisterium getauft und, ihn im-
mer wieder vor Augen, erwachsen geworden. Es erstaunt wenig, wenn die Gestalt
in seinem Gedächtnis lebendig blieb, nachdem ihm 1301 die Rückkehr in seine
Heimatstadt verwehrt worden war – zumal das später im Exil verfasste Inferno der
Commedia auch ein Blick zurück im Zorn auf die Florentiner ist. Deshalb verstand
es sich aber längst nicht von selbst, dass Dante die Darstellung für sein Gedicht
heranzog: Neben vielen Texten ist sie das einzige Bild, von dem wir solches wissen.15
Im Übrigen scheint der Umstand nicht recht zu der unter den Dantisti etablierten
Vorstellung von dem zu passen, was den Dichter inspirierte, denn bei allem Inter-
12 Dante, ed. Gmelin (zit. Anm. 2), Kommentar 1: Die Hölle, S. 482. Dante Alighieri:
Commedia, kommentiert von Anna Maria Chiavacci Leonardi, Mailand 1991, S. 1007.
Kurt Flasch: Der Teufel in Dantes Göttlicher Komödie. In: Dante und die bildenden
Künste: Dialoge – Spiegelungen – Transformationen, hg. von Sebastian Schütze / Maria
Antonietta Terzoli, Berlin 2016, S. 1–11, bes. S. 8.
13 August Rüegg: Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen literarischen Vo-
raussetzungen der Divina Commedia. Ein quellenkritischer Kommentar. Einsiedeln /
Köln 1945, Bd. 1, S. 352–394; Maximilian Benz: Gesicht und Schrift: Die Erzählung von
Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter. Berlin 2013, S. 151–165.
14 Vincentius Belvacensis: Speculum historiale, version SM trifaria (MS Douai BM 797), Sour-
cEncyMe (online). Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante (zit. Anm. 13), Bd. 1, S. 352.
15 Wenn Dante in der Commedia (Purgatorio vi, 76–78 und Paradiso xi, 119–120) und an-
derswo das Sprachbild „Schifflein“ benutzt, hat dies nicht unbedingt mit Giottos Na-
vicella zu tun.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken