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das wEinGartEnEr BErthold-sakramEntar
foll. 39 50, 59, 78). Lochnähte und angeflickte Stellen kennt jeder, der mit mittelal-
terlichen Büchern arbeitet. „Entspannungsnähte“ wie die von Voelkle und Sciacca
postulierten sind mir dagegen unbekannt, zumal im Skriptorium von Weingarten
vor der Zeit um 1200, und auch Frank M. Bischoff kennt sie nicht.59 Seine For-
schungen sprechen vielmehr dagegen, dass für hochrangige Bücher sehr schadhaf-
tes Pergament verwendet wurde.60 Warum ein seit fast anderthalb Jahrhunderten
effizient arbeitendes Skriptorium plötzlich für seine Prachtcodices nur noch man-
gelhaftes Pergament zur Verfügung gehabt bzw. nicht gewusst haben soll, wie man
es angemessen bemalt, lässt sich auch, bei entsprechender Datierung, mit einer aus
der Brandkatastrophe resultierenden Materialknappheit nur unzureichend begrün-
den. Für prachtvolle Goldeinbände waren schließlich auch die Mittel da.
Die Deutung für dieses sehr auffällige Phänomen muss anders verlaufen, und
die schon früher von mir vorgetragene Interpretation wird bekräftigt durch seither
publizierte Befunde von Pergamentnähten aus dem Alpenraum mit sehr geringer
funktionaler und vorrangig ästhetischer Wirkung (Abb. 4–8), letztere mitunter mit
Entsprechungen in (Abb. 9) oder Parallelen zu gemalter Ausstattung (Abb. 10).61
59 Frank M. Bischoff (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Duisburg) danke ich für eine
neuerliche briefliche Auskunft und Bestätigung bereits früher ausgesprochener Beobach-
tungen.
60 In seinen Forschungen konnte Bischoff ganz im Gegenteil an vielen Stellen nachweisen,
dass man für Miniaturen gezielt auf besseres, stärkeres Pergament zurückgegriffen und
dies auch in die Lagenstruktur integriert hatte, vgl. zum Beispiel Frank M. Bischoff: Me-
thoden der Lagenbeschreibung. In: Scriptorium 46 (1992), S. 3–27. – Ders.: Pergament-
dicke und Lagenordnung. Beobachtungen zur Herstellungstechnik Helmarshausener
Evangeliare des 11. und 12. Jahrhunderts. In: Peter Rück (Hg.): Pergament. Sigmaringen
1991, S. 160–224. – Ders.: Unterwegs. Statistik und Datenverarbeitung in den Histori-
schen Hilfswissenschaften. In: Peter Rück (Hg.): Mabillons Spur. Zweiundzwanzig Mis-
zellen aus dem Fachgebiet für Historische Hilfswissenschaften der Philipps-Universität
Marburg zum 80. Geburtstag von Walter Heinemeyer, Marburg 1992, S. 23–38.
61 Im Kloster Engelberg in der Zentralschweiz wurden häufig am äußeren und unteren
Blattrand Pergamentstücke mit enggeführten Stoßnähten mit gezacktem Kontur in
bunten Seidenfäden angesetzt, offenbar um Unregelmäßigkeiten durch bis zum Rand
ausgenutzte Tierhäute auszugleichen (Abb. 7, 8). Völlig frei von Zweck ist die im gan-
zen Alpenraum verbreitete Gepflogenheit, Pergamentlöcher mit „gehäkelt“ wirkenden
Nadelbindearbeiten auszufüllen, die im abgebildeten Beispiel einen farblichen und for-
malen Bezug zu einem medaillonartigen Fleuronnée-Element zeigt (Abb. 9, ich danke
Christine Beier für den Hinweis). Freilich stellt sich hier wie oft die Frage nach der zeitli-
chen Abfolge, ebenfalls bei der gelegentlich beobachteten Gepflogenheit, unansehnliche
Pergamenternähte herauszuschneiden und durch hohlsaumartige Schlingsticharbeiten
zu ersetzen (zum Beispiel in Aarau, Kantonsbibliothek, Ms. Wett F 9, 14. Jahrhundert).
Vollends mutwillig wirkt schließlich der rund um den Schriftspiegel abgeschnittene und
wieder in bunter Stoßnaht angesetzte Randbereich einer Zwiefaltener Handschrift des
12. Jahrhunderts (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. Hist. 2° 411, fol.
57v; ich danke Astrid Breith für den Hinweis). – Im Zusammenhang mit den radial
verlaufenden Nähten im Berthold-Sakramentar verwies Siegfried Drescher (Hamburg)
auf die etwas jüngere englische Gulbenkian-Apokalypse (Lissabon, Museu de Fundação
Calouste Gulbenkian, s. n., zweite Hälfte 13. Jahrhundert), deren diagonale, auch als
„prolongements à l’italienne“ oder „italianate shooters“ bekannten kompakten Fleu-
ronnée-Ausläufer (vgl. ein etwa gleichzeitiges französisches Beispiel, Abb. 10) eine auf-
fällige ästhetische Parallele darstellen. – Zu der Beziehung zwischen Miniaturen und
Nadelarbeiten inner- und außerhalb von Handschriften vgl. demnächst: Marina Ber- Abb. 4: wie Abb. 2, S. 93: Perga-
menternaht im Randbereich des
Pergaments, teilweise aufgegan-
gen, überarbeitet
Abb. 5: wie Abb. 2, S. 660: nach-
träglich angesetztes Pergament-
stück, mit Ziernaht
Abb. 6: wie Abb. 2, S. 171: nach-
träglich eingesetztes Pergament-
stück, mit Ziernähten
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken