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christinE JakoBi-mirwald
Fazit
Gleich in mehrfacher Hinsicht – Buchtyp, Aufbau, Ausstattungsaufwand, Schrift,
Einband, Pergament mit stilisierten Nähten – scheint das Berthold-Sakramentar
die Herrlichkeit einer vergangenen Zeit heraufzubeschwören. Zwar befand sich das
Kloster bereits auf dem Weg in den Niedergang, die Zeiten des Welfenpatronats
waren zu Ende, die Zukunft unter den Staufern ungewiss. Abt Berthold lag jedoch
daran, sich der eigenen Vergangenheit zu versichern, und er tat dies in einer Wei-
se, die sowohl ihn selbst als auch die von ihm in Auftrag gegebenen Werke sehr
profiliert darstellt. Die Tendenz zur Archaisierung ist typisch für Prachtcodices des
frühen 13. Jahrhunderts (vgl. zum Beispiel das Missale Rossianus 181), in dieser
Konsequenz und auf diesem ausstatterischen und künstlerischen Niveau im Ber-
thold-Sakramentar aber einzigartig. Zumal es als einziges einen Buchtyp vertritt,
der in seiner liturgischen Form überholt war. Entsprechend fallen die Benutzungs-
spuren aus – in zweifachem Wortsinn.
Die Frage, die sich jetzt zwangsläufig stellt, ist die: Gehört auch der extrem
charakteristische, singuläre Stil des Bertholdmeisters in diesen Zusammenhang? Es
handelt sich dabei, dies sei noch einmal in Erinnerung gerufen, um einen Stil, der
sich bislang den Versuchen der Herleitung hartnäckig widersetzt hat. So eindeutig
sein Fortleben innerhalb des Weingartener Skriptoriums belegbar ist, so unmöglich
scheint es, die Herkunft des Malers und seiner Formsprache dingfest zu machen.
Nach allem bisher Gesagten ist gut vorstellbar, dass dieser Stil deshalb nicht her-
zuleiten ist, weil wir ihn aus unserem heutigen Blickwinkel sehen. Wir empfinden
die stechenden Blicke, die Psychologisierung von Mimik und Gestik, die Torsionen
und Windungen als fortschrittlich, geradezu modern. Aber wollten und sollten sie
das sein – oder war es nicht eine archaisierende Absicht, die den Maler auf wohlge-
merkt ältere byzantinische Vorlagen verwies, ihn die „modischen“ Channel-Style-
Ranken ins Hieratische steigern und verschwenderische Gold- und Silbergründe zu
emaille- und nielloartiger Pracht perfektionieren ließ? Nun war er, woher er auch
immer kam, eindeutig ein Meister seiner Zunft, und derart vollkommene Werke
üben häufig eine Art Sogwirkung aus, so dass dieser Stil, den man durchaus als
retrospektiv interpretieren könnte, zugleich innerhalb des Skriptoriums zu einem
Wegweiser wurde – und es dem Kunsthistoriker des 21. Jahrhunderts noch einmal
schwerer macht, ihn nicht als „innovativ“ zu begreifen.
Das Berthold-Sakramentar ist offenbar in kalkulierter Absicht und mit einer
Prachtentfaltung, die wahrlich an die spätbarocke Klosterherrlichkeit vor der Sä-
kularisierung gemahnt, aus der Zeit gefallen. Dass es für uns heutige Betrachter
zumindest stilistisch in eine andere Richtung gefallen zu sein scheint, als es – nach
der hier vorgeschlagenen Lesart – der Maler, vermutlich gemäß Weisung seines
Auftraggebers Abt Berthold, beabsichtigt hat, konnten die beiden nicht ahnen.
Vielleicht hätte es sie ja amüsiert.
Bildrechte: Abb. 1–7 Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, Fotosammlung;
Abb. 8–12 Admont, Benediktinerstift.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken