Seite - 4 - in Briefe an den Vater
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Liebster Vater,
Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht
vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben
aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung
dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden
halbwegs zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir
schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil
auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern
und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand
weit hinausgeht.
Dir hat sich die Sache immer sehr einfach dargestellt, wenigstens soweit
Du vor mir und, ohne Auswahl, vor vielen andern davon gesprochen hast. Es
schien Dir etwa so zu sein: Du hast Dein ganzes Leben lang schwer
gearbeitet, alles für Deine Kinder, vor allem für mich geopfert, ich habe
infolgedessen »in Saus und Braus« gelebt, habe vollständige Freiheit gehabt
zu lernen was ich wollte, habe keinen Anlaß zu Nahrungssorgen, also zu
Sorgen überhaupt gehabt; Du hast dafür keine Dankbarkeit verlangt, Du
kennst »die Dankbarkeit der Kinder«, aber doch wenigstens irgendein
Entgegenkommen, Zeichen eines Mitgefühls; statt dessen habe ich mich seit
jeher vor Dir verkrochen, in mein Zimmer, zu Büchern, zu verrückten
Freunden, zu überspannten Ideen; offen gesprochen habe ich mit Dir niemals,
in den Tempel bin ich nicht zu Dir gekommen, in Franzensbad habe ich Dich
nie besucht, auch sonst nie Familiensinn gehabt, um das Geschäft und Deine
sonstigen Angelegenheiten habe ich mich nicht gekümmert, die Fabrik habe
ich Dir aufgehalst und Dich dann verlassen, Ottla habe ich in ihrem Eigensinn
unterstützt und während ich für Dich keinen Finger rühre (nicht einmal eine
Theaterkarte bringe ich Dir), tue ich für Freunde alles. Faßt Du Dein Urteil
über mich zusammen, so ergibt sich, daß Du mir zwar etwas geradezu
Unanständiges oder Böses nicht vorwirfst (mit Ausnahme vielleicht meiner
letzten Heiratsabsicht), aber Kälte, Fremdheit, Undankbarkeit. Und zwar
wirfst Du es mir so vor, als wäre es meine Schuld, als hätte ich etwa mit einer
Steuerdrehung das Ganze anders einrichten können, während Du nicht die
geringste Schuld daran hast, es wäre denn die, daß Du zu gut zu mir gewesen
bist.
Diese Deine übliche Darstellung halte ich nur so weit für richtig, daß auch
ich glaube, Du seist gänzlich schuldlos an unserer Entfremdung. Aber ebenso
gänzlich schuldlos bin auch ich. Könnte ich Dich dazu bringen, daß Du das
anerkennst, dann wäre – nicht etwa ein neues Leben möglich, dazu sind wir
beide viel zu alt, aber doch eine Art Friede, kein Aufhören, aber doch ein
Mildern Deiner unaufhörlichen Vorwürfe.
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Briefe an den Vater
- Titel
- Briefe an den Vater
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1919
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 40
- Kategorien
- Weiteres Belletristik