Seite - 6 - in Briefe an den Vater
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andererseits Du in dieser Hinsicht verschiedene Zeiten durchgemacht, warst
vielleicht fröhlicher, ehe Dich Deine Kinder, besonders ich, enttäuschten und
zu Hause bedrückten (kamen Fremde, warst Du ja anders) und bist auch jetzt
vielleicht wieder fröhlicher geworden, da Dir die Enkel und der
Schwiegersohn wieder etwas von jener Wärme geben, die Dir die Kinder, bis
auf Valli vielleicht, nicht geben konnten. Jedenfalls waren wir so verschieden
und in dieser Verschiedenheit einander so gefährlich, daß, wenn man es hätte
etwa im voraus ausrechnen wollen, wie ich, das langsam sich entwickelnde
Kind, und Du, der fertige Mann, sich zueinander verhalten werden, man hätte
annehmen können, daß Du mich einfach niederstampfen wirst, daß nichts von
mir übrigbleibt. Das ist nun nicht geschehen, das Lebendige läßt sich nicht
ausrechnen, aber vielleicht ist Ärgeres geschehen. Wobei ich Dich aber
immerfort bitte, nicht zu vergessen, daß ich niemals im entferntesten an eine
Schuld Deinerseits glaube. Du wirktest so auf mich, wie Du wirken mußtest,
nur sollst Du aufhören, es für eine besondere Bosheit meinerseits zu halten,
daß ich dieser Wirkung erlegen bin.
Ich war ein ängstliches Kind; trotzdem war ich gewiß auch störrisch, wie
Kinder sind; gewiß verwöhnte mich die Mutter auch, aber ich kann nicht
glauben, daß ich besonders schwer lenkbar war, ich kann nicht glauben, daß
ein freundliches Wort, ein stilles Bei-der-Hand-Nehmen, ein guter Blick mir
nicht alles hätten abfordern können, was man wollte. Nun bist Du ja im
Grunde ein gütiger und weicher Mensch (das Folgende wird dem nicht
widersprechen, ich rede ja nur von der Erscheinung, in der Du auf das Kind
wirktest), aber nicht jedes Kind hat die Ausdauer und Unerschrockenheit, so
lange zu suchen, bis es zu der Güte kommt. Du kannst ein Kind nur so
behandeln, wie Du eben selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm und Jähzorn,
und in diesem Falle schien Dir das auch noch überdies deshalb sehr gut
geeignet, weil Du einen kräftigen mutigen Jungen in mir aufziehen wolltest.
Deine Erziehungsmittel in den allerersten Jahren kann ich heute natürlich
nicht unmittelbar beschreiben, aber ich kann sie mir etwa vorstellen durch
Rückschluß aus den späteren Jahren und aus Deiner Behandlung des Felix.
Hiebei kommt verschärfend in Betracht, daß Du damals jünger, daher frischer,
wilder, ursprünglicher, noch unbekümmerter warst als heute und daß Du
außerdem ganz an das Geschäft gebunden warst, kaum einmal des Tages Dich
mir zeigen konntest und deshalb einen um so tieferen Eindruck auf mich
machtest, der sich kaum je zur Gewöhnung verflachte.
Direkt erinnere ich mich nur an einen Vorfall aus den ersten Jahren. Du
erinnerst Dich vielleicht auch daran. Ich winselte einmal in der Nacht
immerfort um Wasser, gewiß nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um
zu ärgern, teils um mich zu unterhalten. Nachdem einige starke Drohungen
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Buch Briefe an den Vater"
Briefe an den Vater
- Titel
- Briefe an den Vater
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1919
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 40
- Kategorien
- Weiteres Belletristik