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Natürlich konnte man nicht für jede Kinderkleinigkeit Begeisterung von Dir
verlangen, wenn Du in Sorge und Plage lebtest. Darum handelte es sich auch
nicht. Es handelte sich vielmehr darum, daß Du solche Enttäuschungen dem
Kinde immer und grundsätzlich bereiten mußtest kraft Deines
gegensätzlichen Wesens, weiter daß dieser Gegensatz durch Anhäufung des
Materials sich unaufhörlich verstärkte, so daß er sich schließlich auch
gewohnheitsmäßig geltend machte, wenn Du einmal der gleichen Meinung
warst wie ich und daß endlich diese Enttäuschungen des Kindes nicht
Enttäuschungen des gewöhnlichen Lebens waren, sondern, da es ja um Deine
für alles maßgebende Person ging, im Kern trafen. Der Mut, die
Entschlossenheit, die Zuversicht, die Freude an dem und jenem hielten nicht
bis zum Ende aus, wenn Du dagegen warst oder schon wenn Deine
Gegnerschaft bloß angenommen werden konnte; und angenommen konnte sie
wohl bei fast allem werden, was ich tat.
Das bezog sich auf Gedanken so gut wie auf Menschen. Es genügte, daß ich
an einem Menschen ein wenig Interesse hatte – es geschah ja infolge meines
Wesens nicht sehr oft -, daß Du schon ohne jede Rücksicht auf mein Gefühl
und ohne Achtung vor meinem Urteil mit Beschimpfung, Verleumdung,
Entwürdigung dreinfuhrst. Unschuldige, kindliche Menschen wie zum
Beispiel der jiddische Schauspieler Löwy mußten das büßen. Ohne ihn zu
kennen, verglichst Du ihn in einer schrecklichen Weise, die ich schon
vergessen habe, mit Ungeziefer, und wie so oft für Leute, die mir lieb waren,
hattest Du automatisch das Sprichwort von den Hunden und Flöhen bei der
Hand. An den Schauspieler erinnere ich mich hier besonders, weil ich Deine
Aussprüche über ihn damals mir mit der Bemerkung notierte: »So spricht
mein Vater über meinen Freund (den er gar nicht kennt) nur deshalb, weil er
mein Freund ist. Das werde ich ihm immer entgegenhalten können, wenn er
mir Mangel an kindlicher Liebe und Dankbarkeit vorwerfen wird.«
Unverständlich war mir immer Deine vollständige Empfindungslosigkeit
dafür, was für Leid und Schande Du mit Deinen Worten und Urteilen mir
zufügen konntest, es war, als hättest Du keine Ahnung von Deiner Macht.
Auch ich habe Dich sicher oft mit Worten gekränkt, aber dann wußte ich es
immer, es schmerzte mich, aber ich konnte mich nicht beherrschen, das Wort
nicht zurückhalten, ich bereute es schon, während ich es sagte. Du aber
schlugst mit Deinen Worten ohneweiters los, niemand tat Dir leid, nicht
währenddessen, nicht nachher, man war gegen Dich vollständig wehrlos.
Aber so war Deine ganze Erziehung. Du hast, glaube ich, ein
Erziehungstalent; einem Menschen Deiner Art hättest Du durch Erziehung
gewiß nützen können; er hätte die Vernünftigkeit dessen, was Du ihm sagtest,
eingesehn, sich um nichts Weiteres gekümmert und die Sachen ruhig so
ausgeführt. Für mich als Kind war aber alles, was Du mir zuriefst, geradezu
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Buch Briefe an den Vater"
Briefe an den Vater
- Titel
- Briefe an den Vater
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1919
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 40
- Kategorien
- Weiteres Belletristik