Seite - 26 - in Briefe an den Vater
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erschüttert werden konntest. Im Grund bestand der Dein Leben führende
Glaube darin, daß Du an die unbedingte Richtigkeit der Meinungen einer
bestimmten jüdischen Gesellschaftsklasse glaubtest und eigentlich also, da
diese Meinungen zu Deinem Wesen gehörten, Dir selbst glaubtest. Auch darin
lag noch genug Judentum, aber zum Weiter-überliefert-werden war es
gegenüber dem Kind zu wenig, es vertropfte zur Gänze, während Du es
weitergabst. Zum Teil waren es unüberlieferbare Jugendeindrücke, zum Teil
Dein gefürchtetes Wesen. Es war auch unmöglich, einem vor lauter
Ängstlichkeit überscharf beobachtenden Kind begreiflich zu machen, daß die
paar Nichtigkeiten, die Du im Namen des Judentums mit einer ihrer
Nichtigkeit entsprechenden Gleichgültigkeit ausführtest, einen höheren Sinn
haben konnten. Für Dich hatten sie Sinn als kleine Andenken aus früheren
Zeiten, und deshalb wolltest Du sie mir vermitteln, konntest dies aber, da sie
ja auch für Dich keinen Selbstwert mehr hatten, nur durch Überredung oder
Drohung tun; das konnte einerseits nicht gelingen und mußte andererseits
Dich, da Du Deine schwache Position hier gar nicht erkanntest, sehr zornig
gegen mich wegen meiner scheinbaren Verstocktheit machen.
Das Ganze ist ja keine vereinzelte Erscheinung, ähnlich verhielt es sich bei
einem großen Teil dieser jüdischen Übergangsgeneration, welche vom
verhältnismäßig noch frommen Land in die Städte auswanderte; das ergab
sich von selbst, nur fügte es eben unserem Verhältnis, das ja an Schärfen
keinen Mangel hatte, noch eine genug schmerzliche hinzu. Dagegen sollst Du
zwar auch in diesem Punkt, ebenso wie ich, an Deine Schuldlosigkeit
glauben, diese Schuldlosigkeit aber durch Dein Wesen und durch die
Zeitverhältnisse erklären, nicht aber bloß durch die äußeren Umstände, also
nicht etwa sagen, Du hättest zu viel andere Arbeit und Sorgen gehabt, als daß
Du Dich auch noch mit solchen Dingen hättest abgeben können. Auf diese
Weise pflegst Du aus Deiner zweifellosen Schuldlosigkeit einen ungerechten
Vorwurf gegen andere zu drehen. Das ist dann überall und auch hier sehr
leicht zu widerlegen. Es hätte sich doch nicht etwa um irgendeinen Unterricht
gehandelt, den Du Deinen Kindern hättest geben sollen, sondern um ein
beispielhaftes Leben; wäre Dein Judentum stärker gewesen, wäre auch Dein
Beispiel zwingender gewesen, das ist ja selbstverständlich und wieder gar
kein Vorwurf, sondern nur eine Abwehr Deiner Vorwürfe. Du hast letzthin
Franklins Jugenderinnerungen gelesen. Ich habe sie Dir wirklich absichtlich
zum Lesen gegeben, aber nicht, wie Du ironisch bemerktest, wegen einer
kleinen Stelle über Vegetarianismus, sondern wegen des Verhältnisses
zwischen dem Verfasser und seinem Vater, wie es dort beschrieben ist, und
des Verhältnisses zwischen dem Verfasser und seinem Sohn, wie es sich von
selbst in diesen für den Sohn geschriebenen Erinnerungen ausdrückt. Ich will
hier nicht Einzelheiten hervorheben.
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Briefe an den Vater
- Titel
- Briefe an den Vater
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1919
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 40
- Kategorien
- Weiteres Belletristik