Seite - 28 - in Briefe an den Vater
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ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge
gezogener Abschied von Dir, nur daß er zwar von Dir erzwungen war, aber in
der von mir bestimmten Richtung verlief. Aber wie wenig war das alles! Es
ist ja überhaupt nur deshalb der Rede wert, weil es sich in meinem Leben
ereignet hat, anderswo wäre es gar nicht zu merken, und dann noch deshalb,
weil es mir in der Kindheit als Ahnung, später als Hoffnung, noch später oft
als Verzweiflung mein Leben beherrschte und mir – wenn man will, doch
wieder in Deiner Gestalt – meine paar kleinen Entscheidungen diktierte.
Zum Beispiel die Berufswahl. Gewiß, Du gabst mir hier völlige Freiheit in
Deiner großzügigen und in diesem Sinn sogar geduldigen Art. Allerdings
folgtest Du hiebei auch der für Dich maßgebenden allgemeinen
Söhnebehandlung des jüdischen Mittelstandes oder zumindest den
Werturteilen dieses Standes. Schließlich wirkte hiebei auch eines Deiner
Mißverständnisse hinsichtlich meiner Person mit. Du hältst mich nämlich seit
jeher aus Vaterstolz, aus Unkenntnis meines eigentlichen Daseins, aus
Rückschlüssen aus meiner Schwächlichkeit für besonders fleißig. Als Kind
habe ich Deiner Meinung nach immerfort gelernt und später immerfort
geschrieben. Das stimmt nun nicht im entferntesten. Eher kann man mit viel
weniger Übertreibung sagen, daß ich wenig gelernt und nichts erlernt habe;
daß etwas in den vielen Jahren bei einem mittleren Gedächtnis, bei nicht
allerschlechtester Auffassungskraft hängengeblieben ist, ist ja nicht sehr
merkwürdig, aber jedenfalls ist das Gesamtergebnis an Wissen, und besonders
an Fundierung des Wissens, äußerst kläglich im Vergleich zu dem Aufwand
an Zeit und Geld inmitten eines äußerlich sorglosen, ruhigen Lebens,
besonders auch im Vergleich zu fast allen Leuten, die ich kenne. Es ist
kläglich, aber für mich verständlich. Ich hatte, seitdem ich denken kann,
solche tiefste Sorgen der geistigen Existenzbehauptung, daß mir alles andere
gleichgültig war. Jüdische Gymnasiasten bei uns sind leicht merkwürdig, man
findet da das Unwahrscheinlichste, aber meine kalte, kaum verhüllte,
unzerstörbare, kindlich hilflose, bis ins Lächerliche gehende, tierisch
selbstzufriedene Gleichgültigkeit eines für sich genug, aber kalt
phantastischen Kindes habe ich sonst nirgends wieder gefunden, allerdings
war sie hier auch der einzige Schutz gegen die Nervenzerstörung durch Angst
und Schuldbewußtsein. Mich beschäftigte nur die Sorge um mich, diese aber
in verschiedenster Weise. Etwa als Sorge um meine Gesundheit; es fing leicht
an, hier und dort ergab sich eine kleine Befürchtung wegen der Verdauung,
des Haarausfalls, einer Rückgratsverkrümmung und so weiter, das steigerte
sich in unzählbaren Abstufungen, schließlich endete es mit einer wirklichen
Krankheit. Aber da ich keines Dinges sicher war, von jedem Augenblick eine
neue Bestätigung meines Daseins brauchte, nichts in meinem eigentlichen,
unzweifelhaften, alleinigen, nur durch mich eindeutig bestimmten Besitz war,
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Briefe an den Vater
- Titel
- Briefe an den Vater
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1919
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 40
- Kategorien
- Weiteres Belletristik