Seite - 30 - in Briefe an den Vater
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wenn ich diese überstanden hatte, also in der Tertia und so weiter
zusammenkommen würden, um diesen einzigartigen, himmelschreienden Fall
zu untersuchen, wie es mir, dem Unfähigsten und jedenfalls Unwissendsten
gelungen war, mich bis hinauf in diese Klasse zu schleichen, die mich, da nun
die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich gelenkt war, natürlich sofort
ausspeien würde, zum Jubel aller von diesem Albdruck befreiten Gerechten. –
Mit solchen Vorstellungen zu leben ist für ein Kind nicht leicht. Was
kümmerte mich unter diesen Umständen der Unterricht. Wer war imstande,
aus mir einen Funken von Anteilnahme herauszuschlagen? Mich interessierte
der Unterricht – und nicht nur der Unterricht, sondern alles ringsherum in
diesem entscheidenden Alter – etwa so wie einen Bankdefraudanten, der noch
in Stellung ist und vor der Entdeckung zittert, das kleine laufende
Bankgeschäft interessiert, das er noch immer als Beamter zu erledigen hat. So
klein, so fern war alles neben der Hauptsache. Es ging dann weiter bis zur
Matura, durch die ich wirklich schon zum Teil nur durch Schwindel kam, und
dann stockte es, jetzt war ich frei. Hatte ich schon trotz dem Zwang des
Gymnasiums mich nur um mich gekümmert, wie erst jetzt, da ich frei war.
Also eigentliche Freiheit der Berufswahl gab es für mich nicht, ich wußte:
alles wird mir gegenüber der Hauptsache genau so gleichgültig sein, wie alle
Lehrgegenstände im Gymnasium, es handelt sich also darum, einen Beruf zu
finden, der mir, ohne meine Eitelkeit allzusehr zu verletzen, diese
Gleichgültigkeit am ehesten erlaubt. Also war Jus das Selbstverständliche.
Kleine gegenteilige Versuche der Eitelkeit, der unsinnigen Hoffnung, wie
vierzehntägiges Chemiestudium, halbjähriges Deutschstudium, verstärkten
nur jene Grundüberzeugung. Ich studierte also Jus. Das bedeutete, daß ich
mich in den paar Monaten vor den Prüfungen unter reichlicher Mitnahme der
Nerven geistig förmlich von Holzmehl nährte, das mir überdies schon von
tausenden Mäulern vorgekaut war. Aber in gewissem Sinn schmeckte mir das
gerade, wie in gewissem Sinn früher auch das Gymnasium und später der
Beamtenberuf, denn das alles entsprach vollkommen meiner Lage. Jedenfalls
zeigte ich hier erstaunliche Voraussicht, schon als kleines Kind hatte ich
hinsichtlich der Studien und des Berufes genug klare Vorahnungen. Von hier
aus erwartete ich keine Rettung, hier hatte ich schon längst verzichtet.
Gar keine Voraussicht zeigte ich aber hinsichtlich der Bedeutung und
Möglichkeit einer Ehe für mich; dieser bisher größte Schrecken meines
Lebens ist fast vollständig unerwartet über mich gekommen. Das Kind hatte
sich so langsam entwickelt, diese Dinge lagen ihm äußerlich gar zu abseits;
hie und da ergab sich die Notwendigkeit, daran zu denken; daß sich hier aber
eine dauernde, entscheidende und sogar die erbitterteste Prüfung vorbereite,
war nicht zu erkennen. In Wirklichkeit aber wurden die Heiratsversuche der
großartigste und hoffnungsreichste Rettungsversuch, entsprechend großartig
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Briefe an den Vater
- Titel
- Briefe an den Vater
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1919
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 40
- Kategorien
- Weiteres Belletristik