Seite - 32 - in Briefe an den Vater
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zwar nicht jenes Äußerste, aber doch noch sehr groß und sehr ehrenvoll
(besonders da sich ›tun‹ und ›geschehn‹ nicht rein voneinander scheiden
lassen). Und schließlich handelt es sich auch gar nicht um dieses Äußerste,
sondern nur um irgendeine ferne, aber anständige Annäherung; es ist doch
nicht notwendig, mitten in die Sonne hineinzufliegen, aber doch bis zu einem
reinen Plätzchen auf der Erde hinzukriechen, wo manchmal die Sonne
hinscheint und man sich ein wenig wärmen kann.
Wie war ich nun auf dieses vorbereitet? Möglichst schlecht. Das geht schon
aus dem Bisherigen hervor. Soweit es aber dafür eine direkte Vorbereitung des
Einzelnen und eine direkte Schaffung der allgemeinen Grundbedingungen
gibt, hast Du äußerlich nicht viel eingegriffen. Es ist auch nicht anders
möglich, hier entscheiden die allgemeinen geschlechtlichen Standes-, Volks-
und Zeitsitten. Immerhin hast Du auch da eingegriffen, nicht viel, denn die
Voraussetzung solchen Eingreifens kann nur starkes gegenseitiges Vertrauen
sein, und daran fehlte es uns beiden schon längst zur entscheidenden Zeit, und
nicht sehr glücklich, weil ja unsere Bedürfnisse ganz verschieden waren; was
mich packt, muß Dich noch kaum berühren und umgekehrt, was bei Dir
Unschuld ist, kann bei mir Schuld sein und umgekehrt, was bei Dir folgenlos
bleibt, kann mein Sargdeckel sein.
Ich erinnere mich, ich ging einmal abends mit Dir und der Mutter
spazieren, es war auf dem Josephsplatz in der Nähe der heutigen Länderbank,
und fing dumm großtuerisch, überlegen, stolz, kühl (das war unwahr), kalt
(das war echt) und stotternd, wie ich eben meistens mit Dir sprach, von den
interessanten Sachen zu reden an, machte Euch Vorwürfe, daß ich unbelehrt
gelassen worden bin, daß sich erst die Mitschüler meiner hatten annehmen
müssen, daß ich in der Nähe großer Gefahren gewesen bin (hier log ich
meiner Art nach unverschämt, um mich mutig zu zeigen, denn infolge meiner
Ängstlichkeit hatte ich keine genauere Vorstellung von den ›großen
Gefahren‹), deutete aber zum Schluß an, daß ich jetzt schon glücklicherweise
alles wisse, keinen Rat mehr brauche und alles in Ordnung sei. Hauptsächlich
hatte ich davon jedenfalls zu reden angefangen, weil es mir Lust machte,
davon wenigstens zu reden, dann auch aus Neugierde und schließlich auch,
um mich irgendwie für irgend etwas an Euch zu rächen. Du nahmst es
entsprechend Deinem Wesen sehr einfach, Du sagtest nur etwa, Du könntest
mir einen Rat geben, wie ich ohne Gefahr diese Dinge werde betreiben
können. Vielleicht hatte ich gerade eine solche Antwort hervorlocken wollen,
die entsprach ja der Lüsternheit des mit Fleisch und allen guten Dingen
überfütterten, körperlich untätigen, mit sich ewig beschäftigten Kindes, aber
doch war meine äußerliche Scham dadurch so verletzt oder ich glaubte, sie
müsse so verletzt sein, daß ich gegen meinen Willen nicht mehr mit Dir
darüber sprechen konnte und hochmütig frech das Gespräch abbrach.
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Briefe an den Vater
- Titel
- Briefe an den Vater
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1919
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 40
- Kategorien
- Weiteres Belletristik