Seite - 36 - in Briefe an den Vater
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neue Schande und Tyrannei wäre bloß noch Geschichte. Das wäre allerdings
märchenhaft, aber darin liegt eben schon das Fragwürdige. Es ist zu viel, so
viel kann nicht erreicht werden. Es ist so, wie wenn einer gefangen wäre und
er hätte nicht nur die Absicht zu fliehen, was vielleicht erreichbar wäre,
sondern auch noch und zwar gleichzeitig die Absicht, das Gefängnis in ein
Lustschloß für sich umzubauen. Wenn er aber flieht, kann er nicht umbauen,
und wenn er umbaut, kann er nicht fliehen. Wenn ich in dem besonderen
Unglücksverhältnis, in welchem ich zu Dir stehe, selbständig werden will,
muß ich etwas tun, was möglichst gar keine Beziehung zu Dir hat – das
Heiraten ist zwar das Größte und gibt die ehrenvollste Selbständigkeit, aber es
ist auch gleichzeitig in engster Beziehung zu Dir. Hier hinauskommen zu
wollen, hat deshalb etwas von Wahnsinn, und jeder Versuch wird fast damit
gestraft.
Gerade diese enge Beziehung lockt mich ja teilweise auch zum Heiraten.
Ich denke mir diese Ebenbürtigkeit, die dann zwischen uns entstehen würde
und die Du verstehen könntest wie keine andere, eben deshalb so schön, weil
ich dann ein freier, dankbarer, schuldloser, aufrechter Sohn sein, Du ein
unbedrückter, untyrannischer, mitfühlender, zufriedener Vater sein könntest.
Aber zu dem Zweck müßte eben alles Geschehene ungeschehen gemacht, das
heißt wir selbst ausgestrichen werden.
So wie wir aber sind, ist mir das Heiraten dadurch verschlossen, daß es
gerade Dein eigenstes Gebiet ist. Manchmal stelle ich mir die Erdkarte
ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann,
als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder
nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind
entsprechend der Vorstellung, die ich von Deiner Größe habe, nicht viele und
nicht sehr trostreiche Gegenden und besonders die Ehe ist nicht darunter.
Schon dieser Vergleich beweist, daß ich keineswegs sagen will, Du hättest
mich durch Dein Beispiel aus der Ehe, so etwa wie aus dem Geschäft, verjagt.
Im Gegenteil, trotz aller fernen Ähnlichkeit. Ich hatte in Eurer Ehe eine in
vielem mustergültige Ehe vor mir, mustergültig in Treue, gegenseitiger Hilfe,
Kinderzahl, und selbst als dann die Kinder groß wurden und immer mehr den
Frieden störten, blieb die Ehe als solche davon unberührt. Gerade an diesem
Beispiel bildete sich vielleicht auch mein hoher Begriff von der Ehe; daß das
Verlangen nach der Ehe ohnmächtig war, hatte eben andere Gründe. Sie lagen
in Deinem Verhältnis zu den Kindern, von dem ja der ganze Brief handelt.
Es gibt eine Meinung, nach der die Angst vor der Ehe manchmal davon
herrührt, daß man fürchtet, die Kinder würden einem später das heimzahlen,
was man selbst an den eigenen Eltern gesündigt hat. Das hat, glaube ich, in
meinem Fall keine sehr große Bedeutung, denn mein Schuldbewußtsein
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Buch Briefe an den Vater"
Briefe an den Vater
- Titel
- Briefe an den Vater
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1919
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 40
- Kategorien
- Weiteres Belletristik