Seite - 37 - in Briefe an den Vater
Bild der Seite - 37 -
Text der Seite - 37 -
stammt ja eigentlich von Dir und ist auch zu sehr von seiner Einzigartigkeit
durchdrungen, ja dieses Gefühl der Einzigartigkeit gehört zu seinem
quälenden Wesen, eine Wiederholung ist unausdenkbar. Immerhin muß ich
sagen, daß mir ein solcher stummer, dumpfer, trockener, verfallener Sohn
unerträglich wäre, ich würde wohl, wenn keine andere Möglichkeit wäre, vor
ihm fliehen, auswandern, wie Du es erst wegen meiner Heirat machen
wolltest. Also mitbeeinflußt mag ich bei meiner Heiratsunfähigkeit auch
davon sein.
Viel wichtiger aber ist dabei die Angst um mich. Das ist so zu verstehn: Ich
habe schon angedeutet, daß ich im Schreiben und in dem, was damit
zusammenhängt, kleine Selbständigkeitsversuche, Fluchtversuche mit
allerkleinstem Erfolg gemacht, sie werden kaum weiterführen, vieles bestätigt
mir das. Trotzdem ist es meine Pflicht oder vielmehr es besteht mein Leben
darin, über ihnen zu wachen, keine Gefahr, die ich abwehren kann, ja keine
Möglichkeit einer solcher Gefahr an sie herankommen zu lassen. Die Ehe ist
die Möglichkeit einer solchen Gefahr, allerdings auch die Möglichkeit der
größten Förderung, mir aber genügt, daß es die Möglichkeit einer Gefahr ist.
Was würde ich dann anfangen, wenn es doch eine Gefahr wäre! Wie könnte
ich in der Ehe weiterleben in dem vielleicht unbeweisbaren, aber jedenfalls
unwiderleglichen Gefühl dieser Gefahr! Demgegenüber kann ich zwar
schwanken, aber der schließliche Ausgang ist gewiß, ich muß verzichten. Der
Vergleich von dem Sperling in der Hand und der Taube auf dem Dach paßt
hier nur sehr entfernt. In der Hand habe ich nichts, auf dem Dach ist alles und
doch muß ich – so entscheiden es die Kampfverhältnisse und die Lebensnot –
das Nichts wählen. Ähnlich habe ich ja auch bei der Berufswahl wählen
müssen.
Das wichtigste Ehehindernis aber ist die schon unausrottbare Überzeugung,
daß zur Familienerhaltung und gar zu ihrer Führung alles das notwendig
gehört, was ich an Dir erkannt habe, und zwar alles zusammen, Gutes und
Schlechtes, so wie es organisch in Dir vereinigt ist, also Stärke und
Verhöhnung des anderen, Gesundheit und eine gewisse Maßlosigkeit,
Redebegabung und Unzulänglichkeit, Selbstvertrauen und Unzufriedenheit
mit jedem anderen, Weltüberlegenheit und Tyrannei, Menschenkenntnis und
Mißtrauen gegenüber den meisten, dann auch Vorzüge ohne jeden Nachteil
wie Fleiß, Ausdauer, Geistesgegenwart, Unerschrockenheit. Von alledem
hatte ich vergleichsweise fast nichts oder nur sehr wenig und damit wollte ich
zu heiraten wagen, während ich doch sah, daß selbst Du in der Ehe schwer zu
kämpfen hattest und gegenüber den Kindern sogar versagtest? Diese Frage
stellte ich mir natürlich nicht ausdrücklich und beantworte sie nicht
ausdrücklich, sonst hätte sich ja das gewöhnliche Denken der Sache
bemächtigt und mir andere Männer gezeigt, welche anders sind als Du (um in
37
zurück zum
Buch Briefe an den Vater"
Briefe an den Vater
- Titel
- Briefe an den Vater
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1919
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 40
- Kategorien
- Weiteres Belletristik