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also mithin die medizinische Prognose, die häufig unterschiedlich ausfal-
len wird.
Hingegen darf das Alter als solches kein Ausschlusskriterium sein, wohl
aber können in höherem Alter gehäuft auftretende Vorerkrankungen dazu
führen, dass ein älterer Patient im Vergleich zu einem jüngeren eine gerin-
gere Heilungschance aufweist. Die psychologische Belastung für das ärztli-
che Personal, die mit derartigen Entscheidungen verbunden ist, bleibt
zwar unzumutbar hoch, doch ist die Bewertung von Heilungsaussichten
und der Vergleich von Behandlungsoptionen für verschiedenen Patienten
durchaus eine Aufgabe, in der medizinisches Wissen zur Anwendung
kommt. Aus ethischer Sicht muss die Forderung lauten, dass Triage-
Entscheidungen nur nach medizinischen Kriterien, sofern diese eine be-
gründete Entscheidungsbasis erlauben, erfolgen dürfen. Wenn bei einem
Patienten die begründete Aussicht auf eine bessere Heilungsprognose als
bei einem anderen besteht, erscheint es ethisch vertretbar, ihm diese zu-
kommen zu lassen, auch wenn das für den Patienten mit den schlechteren
Aussichten bedeutet, dass ihm nicht geholfen werden kann. Offen lässt der
DER auch die Frage, ob Personen, die sich bei der Ausübung ihres ärztli-
chen oder pflegerischen Berufs infizieren (bei denen die Erkrankung oft
einen besonders schweren Verlauf nimmt), vorrangig behandelt werden
dürfen. Das würde zwar die Grundregel durchbrechen, Priorisierungen
nur nach medizinischen Kriterien vorzunehmen. Doch ließen sich zuguns-
ten derartiger Entscheidungen Gerechtigkeitsüberlegungen anführen, da
sich dieser Personenkreis einem wesentlich höheren Infektionsrisiko aus-
setzen muss, um bereits Erkrankten helfen zu können. Auch liegt es im In-
teresse aller aktuell und künftig Infizierten, die Aufrechterhaltung der me-
dizinischen Versorgung durch die möglichst rasche Rückkehr der Betroffe-
nen an ihren Arbeitsplatz im Krankenhaus sicherzustellen.
Schwieriger sind die Fälle zu beurteilen, in denen es zu einer Ex-post-
Konkurrenz unter mehreren Patienten kommen kann. Darf die lebenser-
haltende Behandlung eines Patienten – angenommen es handle sich um
den in der öffentlichen Debatte um die Stellungnahme des Ethikrats viel
zitierten 85-jährigen Rentner – beendet werden, um mit den medizini-
schen Behandlungskapazitäten das Leben eines anderen Menschen – etwa
das einer 45-jährigen Mutter – zu retten, der sich zu einem späteren Zeit-
punkt infiziert? Aus rechtlicher Sicht wäre dies – anders als bei den Ex-
ante-Konstellationen – als „Töten durch Unterlassen“ zu qualifizieren.1
Aber auch moralisch liefe es auf eine unerlaubte Instrumentalisierung hi-
1 Vgl. Rönnau/Wegner, Grundwissen – Strafrecht: Triage, 403–407, bes. 405f.
Eberhard Schockenhoff
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Buch Die Corona-Pandemie - Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise"
Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Titel
- Die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Autoren
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Herausgeber
- Walter Schaupp
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Ort
- Baden-Baden
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 448
- Schlagwörter
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Kategorien
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik