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Die ablehnende Reaktion der italienischen Ärzte- und Pflegekammer
Der Präsident der italienischen Ärztekammer FNOMCeO, Filippo Anelli,
grenzte sich in einer Pressemitteilung am 8. März 2020 (vgl. FNOMCeO
2020) scharf von den SIAARTI-Empfehlungen ab und sprach von einer
„inakzeptablen Kriegstriage“, die dem deontologischen Kodex der Ärzte-
kammer widerspreche, wonach „alle Patientinnen und Patienten gleich
sind und ohne jegliche Diskriminierung behandelt werden müssen“15. Er
forderte die Ärzteschaft auf, die SIAARTI-Empfehlungen nicht zu befol-
gen, ohne jedoch differenzierend auf einzelne Aspekte des Positionspapiers
näher einzugehen. Entscheidungsgrundlage, so Anelli, dürften allein die
Grundprinzipien der italienischen Verfassung16, des deontologischen Ko-
dex der Ärztekammer17 und des nationalen Gesundheitssystems sein. Mit
dem allgemeinen Verweis auf den deontologischen Ärztekodex ließ er al-
lerdings offen, wie tatsächlich zu verfahren sei, wenn Triage-Entscheidun-
gen de facto unausweichlich werden sollten. Stattdessen forderte er, dass
die Anwendung von Rationierungskriterien nur als ultima ratio in Betracht
zu ziehen sei und zuvor einer kollegialen bioethischen Diskussion inner-
halb des Berufsstandes und in der gesamten Gesellschaft bedürfe.
Anelli nannte das Positionspapier der SIAARTI allerdings einen „Grido
di Dolore“, einen „Schmerzensschrei“, und verlieh seiner Hoffnung Aus-
druck, dass dieser von den politisch Verantwortlichen gehört werde. Sie
sollten alles unternehmen, um Ärzte vor solchen Triage-Entscheidungen
zu bewahren. Deshalb forderte Anelli die sofortige Erhöhung der intensiv-
medizinischen Kapazitäten, appellierte zugleich aber auch an alle Bür-
gerinnen und Bürger, sich gewissenhaft an die nötigen, vom nationalen
Gesundheitsdienst empfohlenen Maßnahmen zu halten, um Infektionen
zu vermeiden.
3.1.
15 Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Italienischen durch den Verfas-
ser.
16 In der öffentlichen Diskussion wurde in diesem Zusammenhang wiederholt auf
den Artikel 32 der italienischen Verfassung Bezug genommen, worin sich die Re-
publik verpflichtet, die Gesundheit „als Grundrecht des Einzelnen und als Inter-
esse der Gemeinschaft zu hüten“.
17 Besonders Artikel 3: „Pflicht des Arztes ist der Schutz des Lebens, der körperli-
chen und geistigen Gesundheit des Menschen und die Linderung des Leidens un-
ter Achtung der Freiheit und der Würde der menschlichen Person, ohne Diskri-
minierung aufgrund von Alter, Geschlecht, Ethnie, Religion, Nationalität, sozia-
ler Lage, Weltanschauung, in Friedens- oder Kriegszeiten, unabhängig von den
institutionellen oder sozialen Bedingungen, unter denen er tätig ist […].“
Das Triage-Problem in Italien während der COVID-19-Pandemie
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Titel
- Die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Autoren
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Herausgeber
- Walter Schaupp
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Ort
- Baden-Baden
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 448
- Schlagwörter
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Kategorien
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik