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treffen können, soweit dies aus Gründen der öffentlichen (Ordnung), Si-
cherheit oder Gesundheit gerechtfertigt ist.11
Die Rechtfertigungsgründe sind zwar grundsätzlich eng auszulegen,
einschränkende Maßnahmen bedürfen demnach einer tatsächlichen und
hinreichend schweren Gefährdung nationaler Schutzgüter und haben dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie den Unionsgrundrechten zu entspre-
chen; allerdings ist nach dem EuGH12 den Mitgliedstaaten ein gewisser Be-
urteilungsspielraum im Verhältnis zur Gefährdung gesellschaftlicher
Grundinteressen eingeräumt. Demnach sind auch zwingende Interessen
des Allgemeinwohls eine ausreichende Rechtfertigung für Beschränkun-
gen und auch Diskriminierungen.13
Bei der Gewichtung der Rechtsgüter betreffend Gefahrenträchtigkeit,
Schutzwürdigkeit und Rechtfertigungspotential lässt der EuGH eine be-
stimmte Judikaturlinie erkennen. So gelten rein wirtschaftliche Gründe als
nicht geeignet, Eingriffe in die in Rede stehenden Freiheitsrechte der EU
zu rechtfertigen.14 Demgegenüber wird dem Schutz von Gesundheit und
Gesundheitssystem eine vergleichsweise erhöhte Relevanz bei der Recht-
fertigbarkeit nationaler Eingriffe in Unionsrecht zugesprochen. In diesem
Sinne hat der EuGH die Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit na-
tionaler Sozialversicherungssysteme15 und den Schutz des nationalen Ge-
sundheitssystems16 als ausreichend zwingendes Allgemeininteresse als
Grundlage für die Einschränkung der EU-Freiheiten und des Diskriminie-
rungsschutzes gewertet. Dass gerade den nationalen Ausnahmemöglichkei-
ten aus Gründen des Gesundheitsschutzes besondere praktische Relevanz
beigemessen wird, findet auch in einer für diesen Bereich erlassenen Pati-
entenrichtlinie Ausdruck.17
Betreffend Art und Inhalt möglicher mitgliedstaatlicher Maßnahmen
zur Festlegung von Ausnahmen zu den unionsrechtlichen Freiheitsrechten
und vom Diskriminierungsschutz aus Gründen der Staatsangehörigkeit18
gilt, dass Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit
11 Vgl. Art 45 Abs 3, Art 52, Art 62 AEUV.
12 Gerichtshof der Europäischen Union.
13 Vgl. Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Anm 19–23 zu
Art 45 sowie Anm 1–7 zu Art 52 AEUV.
14 Vgl. etwa EuGH RsC-514/12 (Zentralbetriebsrat der Salzburger Landeskliniken)
ECLI:EU:C:2013:799; Rs352/85, Bond van Adverteerdes, Slg1988, 2085.
15 Vgl. EuGH RsC-209/05, ITC, Slg2007, I-181.
16 Vgl. EuGH RsC-539/11. ECLI:EU:C:2013:591.
17 Angesprochen ist die RL 2011/24, ABl2001 L 88/85.
18 Vgl. Art 18 Abs 2 AEUV.
Manfred Novak
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Buch Die Corona-Pandemie - Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise"
Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Titel
- Die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Autoren
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Herausgeber
- Walter Schaupp
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Ort
- Baden-Baden
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 448
- Schlagwörter
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Kategorien
- Coronavirus
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