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»Es ist eine gewisse Wahrheit in Ihrer Auffassung«, sagte der Vorsteher,
»Sie haben darin recht, daß man die Äußerungen des Schlosses nicht
wortwörtlich hinnehmen darf. Aber Vorsicht ist doch überall nötig, nicht nur
hier, und desto nötiger, je wichtiger die Äußerung ist, um die es sich handelt.
Was Sie dann aber vom Herlocken sagten, ist mir unbegreiflich. Wären Sie
meinen Ausführungen besser gefolgt, dann müßten Sie doch wissen, daß die
Frage Ihrer Hierherberufung viel zu schwierig ist, als daß wir sie hier im
Laufe einer kleinen Unterhaltung beantworten könnten.«
»So bleibt dann das Ergebnis«, sagte K., »daß alles sehr unklar und
unlösbar ist, bis auf den Hinauswurf.«
»Wer wollte wagen, Sie hinauszuwerfen, Herr Landvermesser?« sagte der
Vorsteher »Eben die Unklarheit der Vorfragen verbürgt Ihnen die höflichste
Behandlung, nur sind Sie dem Anschein nach zu empfindlich. Niemand hält
Sie hier zurück, aber das ist doch kein Hinauswurf.«
»Oh, Herr Vorsteher«, sagte K., »nun sind wieder Sie es, der manches allzu
klar sieht. Ich werde Ihnen einiges davon aufzählen, was mich hier
zurückhält: die Opfer, die ich brachte, um von zu Hause fortzukommen, die
lange, schwere Reise, die begründeten Hoffnungen, die ich mir wegen der
Aufnahme hier machte, meine vollständige Vermögenslosigkeit, die
Unmöglichkeit, jetzt wieder eine andere entsprechende Arbeit zu Hause zu
finden, und endlich, nicht zum wenigsten, meine Braut, die eine Hiesige ist.«
»Ach, Frieda«, sagte der Vorsteher ohne jede Überraschung. »Ich weiß.
Aber Frieda würde Ihnen überallhin folgen. Was freilich das übrige betrifft, so
sind hier allerdings gewisse Erwägungen nötig, und ich werde darüber im
Schloß berichten. Sollte eine Entscheidung kommen oder sollte es vorher
nötig werden, Sie noch einmal zu verhören, werde ich Sie holen lassen. Sind
Sie damit einverstanden?«
»Nein, gar nicht«, sagte K., »ich will keine Gnadengeschenke vom Schloß,
sondern mein Recht.«
»Mizzi«, sagte der Vorsteher zu seiner Frau, die noch immer an ihn
gedrückt dasaß und traumverloren mit Klamms Brief spielte, aus dem sie ein
Schiffchen geformt hatte, erschrocken nahm es ihr K. jetzt fort. »Mizzi, das
Bein fängt mich wieder sehr zu schmerzen an, wir werden den Umschlag
erneuern müssen.«
K. erhob sich. »Dann werde ich mich also empfehlen«, sagte er.
»Ja«, sagte Mizzi, die schon eine Salbe zurechtmachte, »es zieht auch zu
stark.« K. wandte sich um; die Gehilfen hatten, in ihrem immer unpassenden
Diensteifer, gleich auf K.s Bemerkung hin beide Türflügel geöffnet. K.
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Das Schloss
- Titel
- Das Schloss
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 246
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik