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»Einen jungen Mann«, sagte K. »Richtig«, sagte die Wirtin, »und was macht
er?« – »Er liegt, glaube ich, auf einem Brett, streckt sich und gähnt.« Die
Wirtin lachte. »Das ist ganz falsch«, sagte sie. »Aber hier ist doch das Brett,
und hier liegt er«, beharrte K. auf seinem Standpunkt. »Sehen Sie doch
genauer hin«, sagte die Wirtin ärgerlich, »liegt er wirklich?« – »Nein«, sagte
nun K., »er liegt nicht, er schwebt und, nun sehe ich es, es ist gar kein Brett,
sondern wahrscheinlich eine Schnur, und der junge Mann macht einen
Hochsprung.« – »Nun also«, sagte die Wirtin erfreut, »er springt, so üben die
amtlichen Boten. Ich habe ja gewußt, daß Sie es erkennen werden. Sehen Sie
auch sein Gesicht?« – »Vom Gesicht sehe ich nur sehr wenig«, sagte K., »er
strengt sich offenbar sehr an, der Mund ist offen, die Augen
zusammengekniffen, und das Haar flattert.« – »Sehr gut«, sagte die Wirtin
anerkennend. »Mehr kann einer, der ihn nicht persönlich gesehen hat, nicht
erkennen. Aber es war ein schöner Junge; ich habe ihn nur einmal flüchtig
gesehen und werde ihn nie vergessen.« – »Wer war es denn?« fragte K. »Es
war«, sagte die Wirtin, »der Bote, durch den Klamm mich zum ersten Male zu
sich berief.«
K. konnte nicht genau zuhören, er wurde durch Klirren von Glas abgelenkt.
Er fand gleich die Ursache der Störung. Die Gehilfen standen draußen im
Hof, hüpften im Schnee von einem Fuß auf den anderen. Sie taten, als wären
sie glücklich, K. wiederzusehen; vor Glück zeigten sie ihn einander und
tippten dabei immerfort an das Küchenfenster. Auf eine drohende Bewegung
K.s ließen sie sofort davon ab, suchten einander zurückzudrängen, aber einer
entwischte gleich dem anderen, und schon waren sie wieder beim Fenster. K.
eilte in den Verschlag, wo ihn die Gehilfen von außen nicht sehen konnten
und er sie nicht sehen mußte. Aber das leise, wie bittende Klirren der
Fensterscheibe verfolgte ihn auch dort noch lange.
»Wieder einmal die Gehilfen«, sagte er der Wirtin zu seiner
Entschuldigung und zeigte hinaus. Sie aber achtete nicht auf ihn, das Bild
hatte sie ihm fortgenommen, angesehen, geglättet und wieder unter das
Polster geschoben. Ihre Bewegungen waren langsamer geworden, aber nicht
vor Müdigkeit, sondern unter der Last der Erinnerung. Sie hatte K. erzählen
wollen und hatte ihn vergessen über der Erzählung. Sie spielte mit den
Fransen ihres Tuches. Erst nach einem Weilchen blickte sie auf, fuhr sich mit
der Hand über die Augen und sagte: »Auch dieses Tuch ist von Klamm. Und
auch das Häubchen. Das Bild, das Tuch und das Häubchen, das sind drei
Andenken, die ich an ihn habe. Ich bin nicht jung wie Frieda, ich bin nicht so
ehrgeizig wie sie, auch nicht so zartfühlend, sie ist sehr zartfühlend; kurz, ich
weiß mich in das Leben zu schicken, aber das muß ich eingestehen, ohne die
drei Dinge hätte ich es hier nicht so lange ausgehalten, ja, ich hätte es
wahrscheinlich keinen Tag hier ausgehalten. Diese drei Andenken scheinen
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Buch Das Schloss"
Das Schloss
- Titel
- Das Schloss
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 246
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik