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weil es klipp und klar gesagt und völlig durchsichtig war und an Amalia einen
überlegenen Gegner fand, kann in tausend anderen Fällen, bei nur ein wenig
ungünstigeren Fällen, völlig gelingen und kann sich jedem Blick entziehen,
auch dem Blick des Mißbrauchten.«
»Still«, sagte Olga, »Amalia sieht herüber.« Amalia hatte die Fütterung der
Eltern beendet und war jetzt daran, die Mutter auszuziehen; sie hatte ihr
gerade den Rock losgebunden, hing sich die Arme der Mutter um den Hals,
hob sie so ein wenig, streifte ihr den Rock ab und setzte sie dann sanft wieder
nieder. Der Vater, immer unzufrieden damit, daß die Mutter zuerst bedient
wurde – was aber offenbar nur deshalb geschah, weil die Mutter noch
hilfloser war als er -, versuchte, vielleicht auch, um die Tochter für ihre
vermeintliche Langsamkeit zu strafen, sich selbst zu entkleiden, aber obwohl
er bei dem Unnötigsten und Leichtesten anfing, den übergroßen Pantoffeln, in
welchen seine Füße nur lose staken, wollte es ihm auf keine Weise gelingen,
sie abzustreifen; er mußte es unter heiserem Röcheln bald aufgeben und
lehnte wieder steif in seinem Stuhl.
»Das Entscheidende erkennst du nicht«, sagte Olga, »du magst ja recht haben
mit allem, aber das Entscheidende war, daß Amalia nicht in den Herrenhof
ging; wie sie den Boten behandelt hatte, das mochte an sich noch hingehen,
das hätte sich vertuschen lassen; damit aber, daß sie nicht hinging, war der
Fluch über unsere Familie ausgesprochen, und nun war allerdings auch die
Behandlung des Boten etwas Unverzeihliches, ja, es wurde sogar für die
Öffentlichkeit in den Vordergrund geschoben.« – »Wie!« rief K. und dämpfte
sofort die Stimme, da Olga bittend die Hände hob. »Du, die Schwester, sagst
doch nicht etwa, daß Amalia Sortini hätte folgen und in den Herrenhof hätte
laufen sollen?« »Nein«, sagte Olga, »möge ich beschützt werden vor
derartigem Verdacht; wie kannst du das glauben? Ich kenne niemanden, der
so fest im Recht wäre wie Amalia bei allem, was sie tut. Wäre sie in den
Herrenhof gegangen, hätte ich ihr freilich ebenso recht gegeben; daß sie aber
nicht gegangen ist, war heldenhaft. Was mich betrifft, ich gestehe es dir offen,
wenn ich einen solchen Brief bekommen hätte, ich wäre gegangen. Ich hätte
die Furcht vor dem Kommenden nicht ertragen, das konnte nur Amalia. Es
gab ja manche Auswege, eine andere hätte sich zum Beispiel recht schön
geschmückt, und es wäre ein Weilchen darüber vergangen, und dann wäre sie
in den Herrenhof gekommen und hätte erfahren, daß Sortini schon fort,
vielleicht, daß er gleich nach Entsendung des Boten weggefahren sei, etwas,
was sogar sehr wahrscheinlich ist, denn die Launen der Herren sind flüchtig.
Aber Amalia tat das nicht und nichts Ähnliches, sie war zu tief beleidigt und
antwortete ohne Vorbehalt. Hätte sie nur irgendwie zum Schein gefolgt, nur
die Schwelle des Herrenhofes zur Zeit gerade überschritten, das Verhängnis
hätte sich abwenden lassen, wir haben hier sehr kluge Advokaten, die aus
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Buch Das Schloss"
Das Schloss
- Titel
- Das Schloss
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 246
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik