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gleichen Falle die Pflicht jedes anderen gewesen wäre. Und nun wäre den
Leuten, wie ich schon sagte, eine glückliche Lösung des Ganzen am
willkommensten gewesen. Wenn wir plötzlich einmal gekommen wären mit
der Nachricht, daß alles schon in Ordnung sei, daß es zum Beispiel nur ein
inzwischen völlig aufgeklärtes Mißverständnis gewesen sei oder daß es zwar
ein Vergehen gewesen sei, aber es sei schon durch die Tat gutgemacht oder –
selbst das hätte den Leuten genügt – daß es uns durch unsere Verbindungen
ins Schloß gelungen sei, die Sache niederzuschlagen; man hätte uns ganz
gewiß wieder mit offenen Armen aufgenommen, Küsse, Umarmungen, Feste
hätte es gegeben, ich habe Derartiges bei anderen einige Male erlebt. Aber
nicht einmal eine solche Nachricht wäre nötig gewesen; wenn wir nur
freigekommen wären und uns angeboten, die alten Verbindungen wieder
aufgenommen hätten, ohne auch nur ein Wort über die Briefgeschichte zu
verlieren, es hätte genügt, mit Freude hätten alle auf die Besprechung der
Sache verzichtet; es war ja, neben der Angst, vor allem die Peinlichkeit der
Sache gewesen, weshalb man sich von uns getrennt hatte, einfach um nichts
von der Sache zu hören, nicht von ihr zu sprechen, nicht an sie denken, in
keiner Weise von ihr berührt werden zu müssen. Wenn Frieda die Sache
verraten hatte, so hatte sie es nicht getan, um sich an ihr zu freuen, sondern
um sich und alle vor ihr zu bewahren, um die Gemeinde darauf aufmerksam
zu machen, daß hier etwas geschehen war, von dem man sich auf das
sorgfältigste fernzuhalten hatte. Nicht wir kamen hier als Familie in Betracht,
sondern nur die Sache und wir nur der Sache wegen, in die wir uns
verflochten hatten. Wenn wir also nur wieder hervorgekommen wären, das
Vergangene ruhen gelassen hätten, durch unser Verhalten gezeigt hätten, daß
wir die Sache überwunden hatten, gleichgültig auf welche Weise, und die
Öffentlichkeit so die Überzeugung gewonnen hätte, daß die Sache, wie immer
sie auch beschaffen gewesen sein mag, nicht wieder zur Besprechung
kommen werde, auch so wäre alles gut gewesen; überall hätten wir die alte
Hilfsbereitschaft gefunden, selbst wenn wir die Sache nur unvollständig
vergessen hätten, man hätte es verstanden und hätte uns geholfen, es völlig zu
vergessen. Statt dessen aber saßen wir zu Hause. Ich weiß nicht, worauf wir
warteten, auf Amalias Entscheidung wohl, sie hatte damals an jenem Morgen
die Führung der Familie an sich gerissen und hielt sie fest. Ohne besondere
Veranstaltungen, ohne Befehle, ohne Bitten, fast nur durch Schweigen. Wir
anderen hatten freilich viel zu beraten, es war ein fortwährendes Flüstern vom
Morgen bis zum Abend, und manchmal rief mich der Vater in plötzlicher
Beängstigung zu sich, und ich verbrachte am Bett die halbe Nacht. Oder
manchmal hockten wir uns zusammen, ich und Barnabas, der ja erst sehr
wenig von dem Ganzen verstand und immerfort ganz glühend Erklärungen
verlangte, immerfort die gleichen, er wußte wohl, daß die sorgenlosen Jahre,
die andere seines Alters erwarteten, für ihn nicht mehr vorhanden waren, so
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Buch Das Schloss"
Das Schloss
- Titel
- Das Schloss
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 246
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik