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saßen wir zusammen – ganz ähnlich, K., wie wir zwei jetzt – und vergaßen,
daß es Nacht wurde und wieder Morgen. Die Mutter war die Schwächste von
uns allen, wohl weil sie nicht nur das gemeinsame Leid, sondern auch noch
jedes einzelnen Leid mitgelitten hat, und so konnten wir mit Schrecken
Veränderungen an ihr wahrnehmen, die, wie wir ahnten, unserer ganzen
Familie bevorstanden. Ihr bevorzugter Platz war der Winkel eines Kanapees-
wir haben es längst nicht mehr -, es steht in Brunswicks großer Stube, dort
saß sie und – man wußte nicht genau, was es war – schlummerte oder hielt,
wie die bewegten Lippen anzudeuten schienen, lange Selbstgespräche. Es war
ja so natürlich, daß wir immerfort die Briefgeschichte besprachen, kreuz und
quer, in allen sicheren Einzelheiten und allen unsicheren Möglichkeiten, und
daß wir immerfort im Aussinnen von Mitteln zur guten Lösung uns
übertrafen, es war natürlich und unvermeidlich, aber nicht gut, wir kamen ja
dadurch immerfort tiefer in das, dem wir entgehen wollten. Und was halfen
denn diese noch so ausgezeichneten Einfälle; keiner war ausführbar ohne
Amalia, alle waren nur Vorbereitungen, sinnlos dadurch, daß ihre Ergebnisse
gar nicht bis zu Amalia kamen und, wenn sie hingekommen wären, nichts
anderes angetroffen hätten als Schweigen. Nun, glücklicherweise verstehe ich
heute Amalia besser als damals. Sie trug mehr als wir alle; es ist
unbegreiflich, wie sie es ertragen hat und noch heute unter uns lebt. Die
Mutter trug vielleicht unser aller Leid, sie trug es, weil es über sie
hereingebrochen ist, und sie trug es nicht lange, daß sie es heute noch
irgendwie trägt, kann man nicht sagen, und schon damals war ihr Sinn
verwirrt. Aber Amalia trug nicht nur das Leid, sondern hatte auch den
Verstand, es zu durchschauen, wir sahen nur die Folgen, sie sah in den Grund,
wir hofften auf irgendwelche kleinen Mittel, sie wußte, das alles entschieden
war, wir hatten zu flüstern, sie hatte nur zu schweigen, Aug in Aug mit der
Wahrheit stand sie und lebte und ertrug dieses Leben damals wie heute. Wie
viel besser ging es uns in aller unserer Not als ihr. Wir mußten freilich unser
Haus verlassen; Brunswick bezog es, man wies uns diese Hütte zu, mit einem
Handkarren brachten wir unser Eigentum in einigen Fahrten hier herüber,
Barnabas und ich zogen, der Vater und Amalia halfen hinten nach, die Mutter,
die wir gleich anfangs hergebracht hatten, empfing uns, auf einer Kiste
sitzend, immer mit leisem Jammern. Aber ich erinnere mich, daß wir, selbst
während der mühevollen Fahrten – die auch sehr beschämend waren, denn
öfters begegneten wir Erntewagen, deren Begleitung vor uns verstummte und
die Blicke wandte -, daß wir, Barnabas und ich, selbst während dieser Fahrten
es nicht unterlassen konnten, von unseren Sorgen und Plänen zu sprechen,
daß wir im Gespräch manchmal stehenblieben und erst das ›Hallo!‹ des Vaters
uns an unsere Pflicht wieder erinnerte. Aber alle Besprechungen änderten
auch nach der Übersiedlung unser Leben nicht, nur daß wir jetzt allmählich
auch die Armut zu fühlen bekamen. Die Zuschüsse der Verwandten hörten
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Buch Das Schloss"
Das Schloss
- Titel
- Das Schloss
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 246
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik