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verkrüppelten Fuß und glaubte, nur der Vater sei imstande, ihm einen
passenden Stiefel zu machen. Dort saß nun der Vater Tag für Tag, es war ein
trüber, regnerischer Herbst, aber das Wetter war ihm völlig gleichgültig;
morgens zu bestimmter Stunde hatte er die Hand an der Klinke und winkte
uns zum Abschied zu, abends kam er – es schien, als werde er täglich
gebückter – völlig durchnäßt zurück und warf sich in eine Ecke. Zuerst
erzählte er uns von seinen kleinen Erlebnissen, etwa, daß ihm Bertuch aus
Mitleid und alter Freundschaft eine Decke über das Gitter geworfen hatte oder
daß er in einem vorüberfahrenden Wagen den oder jenen Beamten zu
erkennen geglaubt habe oder daß wieder ihn schon hie und da ein Kutscher
erkenne und zum Scherz mit dem Peitschenriemen streife. Später hörte er
dann auf, diese Dinge zu erzählen, offenbar hoffte er nicht mehr, auch nur
irgend etwas dort zu erreichen, er hielt es schon nur für seine Pflicht, seinen
öden Beruf, hinzugehen und dort den Tag zu verbringen. Damals begannen
seine rheumatischen Schmerzen, der Winter näherte sich, es kam früher
Schneefall, bei uns fängt der Winter sehr bald an; nun, und so saß er dort
einmal auf den regennassen Steinen, dann wieder im Schnee. In der Nacht
seufzte er vor Schmerzen, morgens war er manchmal unsicher, ob er gehen
sollte, überwand sich dann aber doch und ging. Die Mutter hängte sich an ihn
und wollte ihn nicht fortlassen; er, wahrscheinlich furchtsam geworden
infolge der nicht mehr gehorsamen Glieder, erlaubte ihr mitzugehen, so wurde
auch die Mutter von den Schmerzen gepackt. Wir waren oft bei ihnen,
brachten Essen oder kamen nur zu Besuch oder wollten sie zur Rückkehr
nach Hause überreden; wie oft fanden wir sie dort zusammengesunken und
aneinanderlehnend auf ihrem schmalen Sitz, gekauert in eine dünne Decke,
die sie kaum umschloß, ringsherum nichts als das Grau von Schnee und Nebel
und weit und breit und tagelang kein Mensch oder Wagen, ein Anblick, K.,
ein Anblick! Bis dann eines Morgens der Vater die steifen Beine nicht mehr
aus dem Bett brachte, es war trostlos, in einer leichten Fieberphantasie
glaubte er zu sehen, wie eben jetzt oben bei Bertuch ein Wagen haltmachte,
ein Beamter ausstieg, das Gitter nach dem Vater absuchte und kopfschüttelnd
und ärgerlich wieder in den Wagen zurückkehrte. Der Vater stieß dabei solche
Schreie aus, daß es war, als wolle er sich von hier aus dem Beamten oben
bemerkbar machen und erklären, wie unverschuldet seine Abwesenheit sei.
Und es wurde eine lange Abwesenheit, er kehrte gar nicht mehr dorthin
zurück, wochenlang mußte er im Bett bleiben. Amalia übernahm die
Bedienung, die Pflege, die Behandlung, alles, und hat es mit Pausen
eigentlich bis heute behalten. Sie kennt Heilkräuter, welche die Schmerzen
beruhigen, sie braucht fast keinen Schlaf, sie erschrickt nie, fürchtet nichts,
hat niemals Ungeduld, sie leistet alle Arbeit für die Eltern; während wir aber,
ohne etwas helfen zu können, unruhig umherflatterten, blieb sie bei allem
kühl und still. Als dann aber das Schlimmste vorüber war und der Vater,
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Buch Das Schloss"
Das Schloss
- Titel
- Das Schloss
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 246
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik