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Erzählungen, aus den kleinen Tatsachen, die er mitteilt, kann man bei weitem
nicht verstehen, wie ihn dieses so verwandelt haben könnte. Man kann
insbesondere nicht verstehen, warum er den Mut, den er als Junge bis zu
unser aller Verzweiflung hatte, jetzt als Mann dort oben so gänzlich verloren
hat. Freilich, dieses nutzlose Dastehen und Warten Tag für Tag und immer
wieder von neuem und ohne jede Aussicht auf Veränderung, das zermürbt und
macht zweiflerisch und schließlich zu anderem als zu diesem verzweifelten
Dastehen sogar unfähig. Aber warum hat er auch früher gar keinen
Widerstand geleistet? Besonders, da er bald erkannte, daß ich recht gehabt
hatte und für den Ehrgeiz dort nichts zu holen war, wohl aber vielleicht für die
Besserung der Lage unserer Familie. Denn dort geht alles – die Launen der
Diener ausgenommen – sehr bescheiden zu, der Ehrgeiz sucht dort in der
Arbeit Befriedigung, und da dabei die Sache selbst das Übergewicht
bekommt, verliert er sich gänzlich, für kindliche Wünsche ist dort kein Raum.
Wohl aber glaubte Barnabas, wie er mir erzählte, deutlich zu sehen, wie groß
die Macht und das Wissen selbst dieser doch recht fragwürdigen Beamten
war, in deren Zimmer er sein durfte. Wie sie diktierten, schnell, mit
halbgeschlossenen Augen, kurzen Handbewegungen, wie sie nur mit dem
Zeigefinger ohne jedes Wort die brummigen Diener abfertigten, die, in
solchen Augenblicken schwer atmend, glücklich lächelten, oder wie sie eine
wichtige Stelle in ihren Büchern fanden, voll daraufschlugen, und wie die
anderen, soweit es in der Enge möglich war, herbeiliefen und die Hälse
danach streckten. Das und ähnliches gab Barnabas große Vorstellungen von
diesen Männern, und er hatte den Eindruck, daß, wenn er so weit käme, von
ihnen bemerkt zu werden und mit ihnen ein paar Worte sprechen zu dürfen –
nicht als Fremder, sondern als Kanzleikollege, allerdings untergeordneter
Art -, Unabsehbares für unsere Familie erreicht werden könnte. Aber so weit
ist es eben noch nicht gekommen, und etwas, was ihn dem annähern könnte,
wagt Barnabas nicht zu tun, obwohl er schon genau weiß, daß er trotz seiner
Jugend innerhalb unserer Familie durch die unglücklichen Verhältnisse zu der
verantwortungsschweren Stellung des Familienvaters selbst hinaufgerückt ist.
Und nun, um das letzte noch zu gestehen: Vor einer Woche bist du
gekommen. Ich hörte im Herrenhof jemanden es erwähnen, kümmerte mich
aber nicht darum; ein Landvermesser war gekommen; ich wußte nicht einmal,
was das ist. Aber am nächsten Abend kommt Barnabas – ich pflegte ihm
sonst zu bestimmter Stunde ein Stück Weges entgegenzugehen – früher als
sonst nach Hause, sieht Amalia in der Stube, zieht mich deshalb auf die
Straße hinaus, drückt dort das Gesicht auf meine Schulter und weint
minutenlang. Er ist wieder der kleine Junge von ehemals. Es ist ihm etwas
geschehen, dem er nicht gewachsen ist. Es ist, als hätte sich vor ihm plötzlich
eine ganz neue Welt aufgetan, und das Glück und die Sorgen aller dieser
Neuheit kann er nicht ertragen. Und dabei ist ihm nichts anderes geschehen,
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Buch Das Schloss"
Das Schloss
- Titel
- Das Schloss
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 246
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik