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diese nächtliche Schwäche der Sekretäre – immer vorausgesetzt, daß es eine
Schwäche ist – für sich auszunutzen. Freilich, eine sehr seltene oder, besser
gesagt, eine fast niemals vorkommende Möglichkeit. Sie besteht darin, daß
die Partei mitten in der Nacht unangemeldet kommt. Sie wundern sich
vielleicht, daß dies, obwohl es so naheliegend scheint, gar so selten geschehen
soll. Nun ja, Sie sind mit unseren Verhältnissen nicht vertraut. Aber auch
Ihnen dürfte doch schon die Lückenlosigkeit der amtlichen Organisation
aufgefallen sein. Aus dieser Lückenlosigkeit aber ergibt sich, daß jeder, der
irgendein Anliegen hat oder aus sonstigen Gründen über etwas verhört
werden muß, sofort, ohne Zögern, meistens sogar noch ehe er selbst sich die
Sache zurechtgelegt hat, ja, noch ehe er selbst von ihr weiß, schon die
Vorladung erhält. Er wird diesmal noch nicht einvernommen, meistens noch
nicht einvernommen, so reif ist die Angelegenheit gewöhnlich noch nicht,
aber die Vorladung hat er, unangemeldet kann er nicht mehr kommen, er kann
höchstens zur Unzeit kommen, nun, dann wird er nur auf das Datum und die
Stunde der Vorladung aufmerksam gemacht, und kommt er dann zu rechter
Zeit wieder, wird er in der Regel weggeschickt, das macht keine
Schwierigkeit mehr; die Vorladung in der Hand der Partei und die
Vormerkung in den Akten, das sind für die Sekretäre zwar nicht immer
ausreichende, aber doch starke Abwehrwaffen. Das bezieht sich allerdings nur
auf den für die Sache gerade zuständigen Sekretär; die anderen überraschend
in der Nacht anzugehen, stünde doch noch jedem frei. Doch wird das kaum
jemand tun, es ist fast sinnlos. Zunächst würde man dadurch den zuständigen
Sekretär sehr erbittern, wir Sekretäre sind zwar untereinander hinsichtlich der
Arbeit gewiß nicht eifersüchtig, jeder trägt ja eine allzu hoch bemessene,
wahrhaftig ohne jede Kleinlichkeit aufgeladene Arbeitslast, aber gegenüber
den Parteien dürfen wir Störungen der Zuständigkeit keinesfalls dulden.
Mancher hat schon die Partie verloren, weil er, da er an zuständiger Stelle
nicht vorwärtszukommen glaubte, an unzuständiger durchzuschlüpfen
versuchte. Solche Versuche müssen übrigens auch daran scheitern, daß ein
unzuständiger Sekretär, selbst wenn er nächtlich überrumpelt wird und besten
Willens ist zu helfen, eben infolge seiner Unzuständigkeit kaum mehr
eingreifen kann als irgendein beliebiger Advokat, oder im Grunde viel
weniger, denn ihm fehlt ja – selbst wenn er sonst irgend etwas tun könnte, da
er doch die geheimen Wege des Rechtes besser kennt als alle die
advokatischen Herrschaften -, es fehlt ihm einfach für die Dinge, bei denen er
nicht zuständig ist, jede Zeit, keinen Augenblick kann er dafür aufwenden.
Wer würde also bei diesen Aussichten seine Nächte dafür verwenden,
unzuständige Sekretäre abzugeben, auch sind ja die Parteien voll beschäftigt,
wenn sie neben ihrem sonstigen Berufe den Vorladungen und Winken der
zuständigen Stellen entsprechen wollen, ›voll beschäftigt‹ freilich im Sinne
der Parteien, was natürlich noch bei weitem nicht das gleiche ist, wie ›voll
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Buch Das Schloss"
Das Schloss
- Titel
- Das Schloss
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 246
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik