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forttreiben oder auch nur das allerdings Selbstverständliche sagen, daß er
endlich fortgehen solle; keiner werde das tun, obwohl sie während K.s
Anwesenheit vor Aufregung wahrscheinlich zittern und der Morgen, ihre
liebste Zeit, ihnen vergällt wird. Statt gegen K. vorzugehen, ziehen sie es vor,
zu leiden, wobei allerdings wohl die Hoffnung mitspielt, daß K. doch endlich
das in die Augen Schlagende auch werde allmählich erkennen müssen und,
entsprechend dem Leid der Herren, selbst auch darunter bis zur
Unerträglichkeit werde leiden müssen, so entsetzlich unpassend, allen
sichtbar, hier auf dem Gang am Morgen zu stehen. Vergebliche Hoffnung. Sie
wissen nicht oder wollen es in ihrer Freundlichkeit und Herablassung nicht
wissen, daß es auch unempfindliche, harte, durch keine Ehrfurcht zu
erweichende Herzen gibt. Sucht nicht selbst die Nachtmotte, das arme Tier,
wenn der Tag kommt, einen stillen Winkel auf, macht sich platt, möchte am
liebsten verschwinden und ist unglücklich darüber, daß sie es nicht kann? K.
dagegen stellt sich dorthin, wo er am sichtbarsten ist, und könnte er dadurch
das Heraufkommen des Tages verhindern, würde er es tun. Er kann es nicht
verhindern, aber verzögern, erschweren kann er es leider. Hat er nicht die
Verteilung der Akten mit angesehen? Etwas, was niemand mit ansehen dürfe,
außer die nächsten Beteiligten. Etwas, was weder Wirt noch Wirtin in ihrem
eigenen Hause haben sehen dürfen. Wovon sie nur andeutungsweise haben
erzählen hören, wie zum Beispiel heute von den Dienern. Habe er denn nicht
bemerkt, unter welchen Schwierigkeiten die Aktenverteilung vor sich
gegangen sei, etwas an sich Unbegreifliches, da doch jeder der Herren nur der
Sache dient, niemals an seinen Einzelvorteil denkt und daher mit allen
Kräften darauf hinarbeiten müßte, daß die Aktenverteilung, diese wichtige,
grundlegende Arbeit, schnell und leicht und fehlerlos erfolge? Und sei denn
K. wirklich auch nicht von der Ferne die Ahnung aufgetaucht, daß die
Hauptursache aller Schwierigkeiten die sei, daß die Verteilung bei fast
geschlossenen Türen durchgeführt werden müsse, ohne die Möglichkeit
unmittelbaren Verkehrs zwischen den Herren, die sich miteinander natürlich
im Nu verständigen könnten, während die Vermittlung durch die Diener fast
stundenlang dauern müsse, niemals klaglos geschehen kann, eine dauernde
Qual für Herren und Diener ist und wahrscheinlich noch bei der späteren
Arbeit schädliche Folgen haben wird. Und warum konnten die Herren nicht
miteinander verkehren? Ja, verstehe es denn K. noch immer nicht? Etwas
Ähnliches sei der Wirtin – und der Wirt bestätigte es auch für seine Person –
noch nicht vorgekommen, und sie hätten doch schon mit mancherlei
widerspenstigen Leuten zu tun gehabt. Dinge, die man sonst nicht
auszusprechen wage, müsse man ihm offen sagen, denn sonst verstehe er das
Allernotwendigste nicht. Nun also, da es gesagt werden müsse: Seinetwegen,
nur und ausschließlich seinetwegen, haben die Herren aus ihren Zimmern
nicht hervorkommen können, da sie am Morgen, kurz nach dem Schlaf, zu
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Buch Das Schloss"
Das Schloss
- Titel
- Das Schloss
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 246
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik