Seite - 222 - in Das Schloss
Bild der Seite - 222 -
Text der Seite - 222 -
schamhaft, zu verletzlich sind, um sich fremden Blicken aussetzen zu können;
sie fühlen sich förmlich, mögen sie auch noch so vollständig angezogen sein,
zu sehr entblößt, um sich zu zeigen. Es ist ja schwer zu sagen, weshalb sie
sich schämen, vielleicht schämen sie sich, diese ewigen Arbeiter, nur deshalb,
weil sie geschlafen haben. Aber vielleicht noch mehr, als sich zu zeigen,
schämen sie sich, fremde Leute zu sehen; was sie glücklich mit Hilfe der
Nachtverhöre überwunden haben, den Anblick der ihnen so schwer
erträglichen Parteien, wollen sie nicht jetzt am Morgen plötzlich unvermittelt
in aller Naturwahrheit von neuem auf sich eindringen lassen. Dem sind sie
eben nicht gewachsen. Was für ein Mensch muß das sein, der das nicht
respektiert! Nun, es muß ein Mensch wie K. sein. Einer, der sich über alles,
über das Gesetz sowie über die allergewöhnlichste menschliche
Rücksichtnahme, mit dieser stumpfen Gleichgültigkeit und Verschlafenheit
hinwegsetzt, dem nichts daran liegt, daß er die Aktenverteilung fast
unmöglich macht und den Ruf des Hauses schädigt, und der das noch nie
Geschehene zustande bringt, daß sich die zur Verzweiflung gebrachten Herren
selbst zu wehren anfangen, nach einer für gewöhnliche Menschen
unausdenkbaren Selbstüberwindung zur Glocke greifen und Hilfe
herbeirufen, um den auf andere Weise nicht zu erschütternden K. zu
vertreiben! Sie, die Herren, rufen um Hilfe! Wären denn nicht längst Wirt und
Wirtin und ihr ganzes Personal herbeigelaufen, wenn sie es nur gewagt hätten,
ungerufen, am Morgen, vor den Herren zu erscheinen, sei es auch nur, um
Hilfe zu bringen und dann gleich zu verschwinden. Zitternd vor Empörung
über K., trostlos wegen ihrer Ohnmacht, hätten sie hier am Beginn des
Ganges gewartet, und das eigentlich nie erwartete Läuten sei für sie eine
Erlösung gewesen. Nun, das Schlimmste sei vorüber! Könnten sie doch nur
einen Blick hineintun in das fröhliche Treiben der endlich von K. befreiten
Herren! Für K. sei es freilich nicht vorüber; er werde sich für das, was er hier
angerichtet habe, gewiß zu verantworten haben.
Sie waren inzwischen bis in den Ausschank gekommen; warum der Wirt
trotz all seinem Zorn K. doch noch hierher geführt hatte, war nicht ganz klar,
vielleicht hatte er doch erkannt, daß K.s Müdigkeit es ihm zunächst
unmöglich machte, das Haus zu verlassen. Ohne eine Aufforderung, sich zu
setzen, abzuwarten, sank K. gleich auf einem der Fässer förmlich zusammen.
Dort im Finstern war ihm wohl. In dem großen Raum brannte jetzt nur eine
schwache elektrische Lampe über den Bierhähnen. Auch draußen war noch
tiefe Finsternis, es schien Schneetreiben zu sein. War man hier in der Wärme,
mußte man dankbar sein und Vorsorge treffen, daß man nicht vertrieben
werde. Der Wirt und die Wirtin standen noch immer vor ihm, als bedeute er
immerhin noch eine gewisse Gefahr, als sei es bei seiner völligen
Unzuverlässigkeit gar nicht ausgeschlossen, daß er sich plötzlich aufmache
222
zurück zum
Buch Das Schloss"
Das Schloss
- Titel
- Das Schloss
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 246
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik