Seite - 12 - in Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte
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12 EINLEITUNG
intellektuellen Fehden funktionalisiert, konnte Glaubwürdigkeit und Gruppenidentität
vermitteln oder ausgrenzen und stigmatisieren, sie eignete sich bestens zur Satire oder
zum Ausdruck des Unangepassten und Unangebrachten. Mit deklarierten Liebhabern
und erbitterten Gegnern in den höchsten Bildungsschichten polarisierte diese Dialekt-
kunst denn auch wie keine andere Gattung das zeitgenössische Werturteil. Sie wurde
von Kaisern geliebt und von Kritikern verachtet, war im Alltag wie auf der Bühne in
aller Munde, wurde von den großen Meistern ebenso verwendet wie vom ungebildeten
Laien. Vor allem aber war sie eines: genuiner Ausdruck eines äußerst produktiven Kul-
turraums.IhrespätereMarginalisierungzumheimatverklärenden,autochthonenästhe-
tischen Ausdruck des einfachen Menschen vom Lande, die erfolgreiche Desavouierung
des Dialekts als de zitäre Sprachform der Ungebildeten und die bis heute andauernde
Hegemonialstellung des protestantischen Aufklärungsparadigmas in der Kanonbildung
machten jedoch diese frühe Blütezeit mundartlicher Kunst als wesentliches Charakte-
ristikum des bairisch-österreichischen Kulturraums beinah völlig vergessen. Dement-
sprechend geringes Augenmerk wird der Zeit vor 1800 auch in den wenigen aktuellen
Überblicksdarstellungen zur Dialektliteratur geschenkt, neigt man doch nach wie vor
dazu, mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
den eigentlichen Beginn der Mundart-
literatur anzusetzen 2. Quellenmaterial aus den Jahrhunderten davor wird nur selten
berücksichtigtundwenndoch,dannstütztmansichgroßteilsnochaufdiezwarfakten-
reichen,zumTeil jedoch längstüberholtenErgebnissederälterenForschung.
Mit den ersten Belegen aus dem frühen 17. Jahrhundert begegnet uns Mundart als
bewusst eingesetztes, von standardsprachlichen Formen abgehobenes ästhetisches Mit-
tel im bairisch-österreichischen Sprachraum ohnedies vergleichsweise spät. In etlichen
anderendeutschenDialekträumenwerdendiejeweiligenVarietätenvorallemimDrama
bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts literarisiert und poetisch funktionali-
siert.3 Niederdeutsches ndetsichschon1578inFranciscusOmichius'NeweComoedia,
Thüringisch in Martin Hayneccius' Schulkomödie Almansor (1582), schlesisch unter-
halten sich die Hirten in Georg Goebels Die fart Jacobs (1586), neuberlinerisch im Ber-
liner Weihnachtsspiel (1589). Brandenburgisch reden die Bauern in Johann Gulichs Spil
von Wuterich dem Antiocho (1593), fränkisch, kölnisch und meißenisch in der Susanna
(1593) des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig4 und im Speculum Puerorum
2 KlausJ.Mattheier: MitderSeeleAtemschöpfen .ÜberdieFunktionvonDialektalität inderdeutschspra-
chigen Literatur. In: Klaus J. Mattheier [u.a.] (Hg.): Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch.
Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang 1993, S.633 652, hier S.638. Ähnlich auch Polenz:
Von eigentlicher Mund-
artdichtung, als bewußter, kontinuierlicher Gegenbewegung zur antiregional gewordenen Hochliteratur,
kann man erst im 19.Jh. sprechen (Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis
zurGegenwart.Bd. II:17.und18. Jahrhundert.Berlin/NewYork:deGruyter1994,S.232).
3 Vgl. u.a. Alfred Lowack: Die Mundarten im hochdeutschen Drama bis gegen Ende des achtzehnten Jahr-
hunderts: Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Dramas und der deutschen Dialektdichtung. Leipzig:
Hesse 1905. (Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte VII) Friedrich Schön: Geschichte der deutschen
Mundartdichtung.3Teilbde.Freiburg:Fehsenfeld1920 1931. HelmutHenne:HochspracheundMund-
artimschlesischenBarock.StudienzumliterarischenWortschatzindererstenHälftedes17.Jahrhunderts.
Köln/Graz:Böhlau1966. (MitteldeutscheForschungen44).
4 Mit dem Bauern Lendel ndet sich in Herzog Heinrich Julius'
Tragica Comoedia` Von einem Wirthe oder
Gastgeber (1594)aucheineNeben gur,diebairischeSprachmerkmaleaufweist.
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Buch Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte"
Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Titel
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Untertitel
- Eine andere Literaturgeschichte
- Autoren
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 652
- Schlagwörter
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen