Seite - 16 - in Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte
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16 EINLEITUNG
etwa im Bereich der Volksnarration, des satirischen Zeitkommentars, der Agitations-
literatur oder der Kanzelrhetorik kaum Beachtung. Fächerübergreifend sind auch die
Fragestellungen,diesichausderthematischenVerankerungvorwiegendindensozialen
Niederungen, im Ländlichen oder auch im Familiär-Privaten ergeben. Zuweilen sind
Dialekttexte die einzigen verbliebenen Zeugen für Alltagsdiskurse von hoher histori-
scher,soziologischerundethnologischerAussagekraft.Umderenproduktions-, inhalts-
und rezeptionsästhetische Besonderheiten als Gegenbild zu den kanonisierten Leittex-
ten zu erfassen, bedarf es der Zusammenarbeit verschiedener kulturwissenschaftlicher
Disziplinen, die ihre spezi schen Ansätze, Methoden und Forschungsergebnisse in die
Untersuchungeinzubringenhaben.
Vorbehalte gegen Mundartkunst sind allerdings nicht nur im Wissenschaftsbetrieb
nachwievorvorhanden.DieArgumentationsmusterhabensichdurchdieJahrhunderte
kaum verändert und zielen weniger auf das künstlerische Potenzial der Produzenten ab
als auf den de zitären Charakter des Dialekts zumal in kommunikativer und ästheti-
scher Hinsicht: Durch seine beschränkte Reichweite büße das mundartliche Kunstwerk
an Verständlichkeit ein,14 der dialogische, genuin mündliche Charakter des dialektalen
AusdrucksbeschneidediekünstlerischenMöglichkeitenunddurchdieschichtenspezi -
scheVerwurzelungimbäuerlich-kleinbürgerlichenLebensbereichenthalteDialektkunst
zu wenig Welthaltigkeit. Verschärft wird dieser Aspekt durch eine soziale Stigmatisie-
rung des Dialekts, der als Ausdruck der Ungebildeten nicht geeignet sei, komplexere
undabstrakteInhaltezugestalten.15 DassvieleAutorenüberlieferterMundartkunstvor
1800ausdergebildetenSchichtstammten,16wirddabeiebensoübersehenwiedieTatsa-
che, dass damals eine überwiegende Mehrheit der geistigen und gesellschaftlichen Elite
im oberdeutschen Sprachgebiet (auch) Dialekt sprach. Die Abwertung des Lokalidioms
ist vor dem Hintergrund der vergleichsweise späten Verankerung einer überregionalen
Einheitssprache zu sehen, die im zentrumslosen deutschsprachigen Raum nur zöger-
lichalsschriftsprachlicheNormangenommenwurde.Umsoschärfer elendieAngriffe
zahlreicher aufklärerischer Sprachpuristen aus, die regionale Varietäten als verderbte
Abart und Hindernis für vernünftiges Denken abquali zierten.17 Noch lange wirkte
diese Geringschätzung in sprachgeschichtlichen Konzepten nach, die die Herausbil-
14 SchonWielandwendetsichgegendasu.a.vonAdelungpostuliertePrimatderVerständlichkeitvonSpra-
che und führt dagegen literarästhetische Vorzüge dialektaler Ausdrücke ins Treffen. Vgl. Florian Gräfe:
DialektliteraturinDeutschlandundItalien.KonstanzundWandelvonBewertungsmustern.Marburg:Tec-
tum2004.
15 Vgl. Oskar Reichmann: Dialektale Verschiedenheit: zu ihrer Auffassung und Bewertung im 17. und
18. Jahrhundert. In: Klaus J. Mattheier [u.a.] (Hg.): Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch.
Frankfurta.M.[u.a.]:Lang1993,S.289 314.
16 Grob lassen sich dialektale Werke natürlich mit den entsprechenden Überschneidungen und Doppel-
besetzungen vier Entstehungsbereichen zuordnen: dem kirchlichen (und hier zumal dem klösterlichen)
Umfeld,denfeudalenHerrschaftszentrenundAdelssitzen,derstadtbürgerlichenKünstler-undIntellektu-
ellenszeneundderbäuerlichenAlltagskulturmit ihrenzumeistunbekanntenVerfassern.
17 Vgl. Ulrich Knoop: Zur Begrifflichkeit der Sprachgeschichtsschreibung. Der Dialekt` als Sprache des ge-
meinen mannes` und die Kodi kation der Sprache im 18. Jahrhundert. In: Horst Haider Munske [u.a.]
(Hg.): Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag von sei-
nenMarburgerSchülern.Berlin/NewYork:deGruyter1988,S.336 350.
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Buch Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte"
Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Titel
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Untertitel
- Eine andere Literaturgeschichte
- Autoren
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 652
- Schlagwörter
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen