Seite - 442 - in Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte
Bild der Seite - 442 -
Text der Seite - 442 -
OpenAccess © 2019byBÖHLAUVERLAGGMBH&CO.KG,WIENKÖLNWEIMAR
442 BRAUCHTUM UND GESELLIGKEIT
6
bistä schlauch'rAdvocat,
muestaufboäd'nachsl'n trag'n,
anderstdenck'nanderst sag'n,
näsonstdiniembtacht'n thät.
muest inscherz'nundin lach'n,
ausß'nrechtänunrechtmach'n,
laugnämuesderAdvocat,
wandähanschon6mahlkrät. 7
freili sännitalli gleich,
gibt ja frummi,gibt jagrechti,
aberöppänomehrschlechti,
idogarniemdüblzeich.
werdengfahr'nwill ent iech'n,
muessivondenstandwöckziech'n,
meintwegnwiränadvocat,
idirsgwisßnit rath'n thät.69
1,2 thains] tun sie 1,4 defendens] (lat.) sich verteidigend gwirrt] gewehrt 1,5 söxi] sechs 2,4 laist] Leisten
2,6 mein oäch'l] (Beteuerungsformel) bei meinem Eid! 2,7 offt] dann umä dum] rundherum, durch und
durch 4,1 händl] Streitfälle 4,3 ringä] leichter 4,5 rog'n] Vorteil, Gewinn 4,6 greili] gräulich 6,6 ausß'n] aus
dem6,8 han]Hahn7,4 üblzeich]beschuldige7,7 wir]werde
DerabschließendeunmissverständlicheRatschlag,nichtdieAdvokatenlaufbahneinzu-
schlagen,dadabeikaumeinerredlichbleibenkönne,warwohleinemderOberenzuviel
des Guten, denn für die Aufführung wurde noch rasch eine lobhudelnde achte Strophe
eingefügt, die dem frisch Promovierten das Vorbild des Vaters anempfahl. Nach einem
Fortsetzungsstudium in Salzburg wurde dem frisch ernannten kaiserlichen Pfalzgrafen
1756 an der Universität Innsbruck die Doktorwürde verliehen. Als Hof- und Gerichts-
advokat der Landeshauptmannschaft im oberösterreichischen Zentralraum tätig, starb
Seyringernur39-jährig1773 inseinerGeburtsstadt.
Auch im Unterhaltungsprogramm der alljährlichen Aderlasstage kamen nachweis-
lich dialektale Scherzlieder zur Verwendung. Der Spott richtete sich dabei freilich nicht
gegendieheutebefremdlichemedizinischeBehandlungsmethode,dienochbisinsfrühe
19. Jahrhundert durchaus gängige Praxis war. Als ausleitendes Verfahren der Humoral-
therapie, die im Gleichgewicht der Körpersäfte den Schlüssel zur Gesundheit sah, kam
der Aderlass bei einem umfangreichen Krankheitsspektrum zum Einsatz, nicht nur bei
akuten Leiden, sondern auch als Maßnahme zur Gesundheitsvorsorge. An astrologisch
bestimmten Tagen wurden die Venen von einem Bader mithilfe eines Schneppers ge-
öffnet und etwa 100 bis 500 ml Blut entnommen. Sogenannte Aderlass-Männchen`,
wie man sie auch in den damaligen Kalendern abgebildet sah, gaben an, welche Kör-
perzonen unter welchen Tierkreiszeichen bevorzugt behandelt werden konnten. Dass
diese Therapie als geselligkeitsfördernde Prophylaxe durchaus ihre angenehmen Seiten
haben konnte, ist Thema diverser Aderlaß-Gsängl. Ein im salzburgischen Hallein 1721
gedrucktes Beispiel eines unbekannten Autors, der es dem bürgerlichen Lesepublikum
seines Rätselbuchs als Zugabe angedeihen ließ, singt ein (weitgehend standardsprachli-
ches)LobaufdieGesundheit, eheesdiePhlebotomie-PatientenindenletztenStrophen
deutlichdialektalerzumGenussaufruft:
69 Musikarchiv Kremsmünster, G44/795. Ediert wurde die ursprüngliche, in der Mappe zweitgereihte Fas-
sung (die weitgehend deckungsgleich ist mit dem Dichterautograph der Strophen 2 7). Differenzen und
Überarbeitungen der anderen Fassung lassen vermuten, dass das Lied mit entsprechenden Adaptionen
nochzumindestzweimalzumEinsatzkam.
zurück zum
Buch Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte"
Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Titel
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Untertitel
- Eine andere Literaturgeschichte
- Autoren
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 652
- Schlagwörter
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen