Seite - 474 - in Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte
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474 KÖRPER UND SINNLICHKEIT
nalisierungsbestrebungen der Aufklärung (die ja auch Verschriftlichung und Standar-
disierung vorantrieben) unterlief. Der karnevaleske Körper der grundsätzlich dialektal
angelegtenlustigenFigurenwieHanswurstoderBernardonundihreMachtlosigkeit, ihn
unter Kontrolle zu halten, entlasteten den Rezipienten vom Domestizierungsdruck und
bescherten ihm die Lust des Tabubruchs, die Freude am Despektierlichen, das Lachen
über die momentane Aufhebung aller Konventionen.4 Michail Bachtins groteskes Kör-
perkonzept einer karnevalistischen Lachkultur mit ihren omnipräsenten Motiven des
Verschlingens, Ausscheidens und des Sexuellen ndet trotz aller Hemmnisse bei Ver-
schriftlichung und Überlieferung auch im dialektalen Textkorpus seine Bestätigung.5
Ein nicht unbeträchtlicher Teil daraus wurde tatsächlich auch für die normunterwan-
derndeFaschingszeitgeschaffen.Koprolalische,alsovulgär-undfäkalsprachlicheLieder
zumstandesaufhebendenExkretionsdruckoderKrankheitsklagenwiedieBauer-Bader-
WechselgesängeumVerstopfungs-oderDysenterieproblemewarenauchimKlosterum-
feld aufführbar; Ekellieder, die mit Unappetitlichkeiten aller Art Schauer hervorrufen
sollten, erfuhren im Lauf der Jahrzehnte ständige Umgestaltungen und konnten mit
Fress-, Sauf-, und Fäkalkomik angereichert werden; Flohlieder brachten eine gequälte
Leiblichkeit imKampfmitdemUngeziefer insBild.
Amseltensten ndetsichfreilichLibidinösesinschriftlicherForm,explizitSexuelles,
das über einen mehr oder weniger zweideutigen Anspielungshorizont hinausgeht. Die
bekannt derben Vulgarismen eines noch nicht domestizierten Hanswurst sind nur in
den seltensten Fällen tatsächlich auch textuell xiert, waren sie doch üblicherweise Teil
des Improvisationsspiels (und damit nicht zuletzt auch außerhalb des Zugriffs der Zen-
sur).DeftigeresklingtauchinCamou ageformendiverserTextformatean,woessichals
Lebensbeichte oder quasi-dokumentarische Berichterstattung über Nötigungsvorfälle
tarnen kann. Dass es aber schon im 18. Jahrhundert auch dezidiert pornographische
Literatur im bairisch-österreichischen Dialekt gegeben haben muss, legen handschrift-
liche Liedersammlungen aus dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts nahe, deren
Inhalt zumindestzumTeil schonindenJahrzehntenzuvor imUmlaufwar.
Vergleichsweise umfangreicher ist dialektale Literatur, die sich Liebe, Sinnlichkeit
und die Beziehung der Geschlechter in etwas unverfänglicherer Weise zum Thema
macht. Anrührend wirkt dies in simplen Liebesliedern nach alten volkstümlichen Mus-
tern, anzüglich in anakreontischen Dichtungen mit ihren frivolen Sujets. Einen wich-
tigen Themenkreis stellen Werbedialoge dar, bei denen der Dialekt im Wechsel mit
oberdeutscher Umgangssprache soziale Differenzierung markieren oder als homogene
Sprechlage für ritualisierte Flirtformen im ländlichen Bereich dienen kann. Liebesver-
wirrungen sind ohnehin das Herzstück unzähliger Lustspiele, so auch im Bereich der
Dialektburleske.AberauchdasEndesomancherLiebesbeziehungimwüstenEhe-Streit
4 Vgl.Müller-Kampel,Hanswurst,Bernardon,Kasperl.
5 Vgl. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russischen von
Gabriele Leupold. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. 2.Au . Frankfurt a.M.:
Suhrkamp1998.
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Buch Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte"
Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Titel
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Untertitel
- Eine andere Literaturgeschichte
- Autoren
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 652
- Schlagwörter
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen