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wollte verhältnismäßig bald Gregor besuchen, aber der Vater und die
Schwester hielten sie zuerst mit Vernunftgründen zurück, denen Gregor sehr
aufmerksam zuhörte, und die er vollständig billigte. Später aber mußte man
sie mit Gewalt zurückhalten, und wenn sie dann rief: »Laßt mich doch zu
Gregor, er ist ja mein unglücklicher Sohn! Begreift ihr es denn nicht, daß ich
zu ihm muß?«, dann dachte Gregor, daß es vielleicht doch gut wäre, wenn die
Mutter hereinkäme, nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der
Woche; sie verstand doch alles viel besser als die Schwester, die trotz all
ihrem Mute doch nur ein Kind war und im letzten Grunde vielleicht nur aus
kindlichem Leichtsinn eine so schwere Aufgabe übernommen hatte.
Der Wunsch Gregors, die Mutter zu sehen, ging bald in Erfüllung.
Während des Tages wollte Gregor schon aus Rücksicht auf seine Eltern sich
nicht beim Fenster zeigen, kriechen konnte er aber auf den paar
Quadratmetern des Fußbodens auch nicht viel, das ruhige Liegen ertrug er
schon während der Nacht schwer, das Essen machte ihm bald nicht mehr das
geringste Vergnügen, und so nahm er zur Zerstreuung die Gewohnheit an,
kreuz und quer über Wände und Plafond zu kriechen. Besonders oben auf der
Decke hing er gern; es war ganz anders, als das Liegen auf dem Fußboden;
man atmete freier; ein leichtes Schwingen ging durch den Körper; und in der
fast glücklichen Zerstreutheit, in der sich Gregor dort oben befand, konnte es
geschehen, daß er zu seiner eigenen Überraschung sich losließ und auf den
Boden klatschte. Aber nun hatte er natürlich seinen Körper ganz anders in der
Gewalt als früher und beschädigte sich selbst bei einem so großen Falle nicht.
Die Schwester nun bemerkte sofort die neue Unterhaltung, die Gregor für sich
gefunden hatte – er hinterließ ja auch beim Kriechen hie und da Spuren seines
Klebstoffes – , und da setzte sie es sich in den Kopf, Gregor das Kriechen in
größtem Ausmaße zu ermöglichen und die Möbel, die es verhinderten, also
vor allem den Kasten und den Schreibtisch, wegzuschaffen.
Nun war sie aber nicht imstande, dies allein zu tun; den Vater wagte sie
nicht um Hilfe zu bitten; das Dienstmädchen hätte ihr ganz gewiß nicht
geholfen, denn dieses etwa sechzehnjährige Mädchen harrte zwar tapfer seit
Entlassung der früheren Köchin aus, hatte aber um die Vergünstigung
gebeten, die Küche unaufhörlich versperrt halten zu dürfen und nur auf
besonderen Anruf öffnen zu müssen; so blieb der Schwester also nichts übrig,
als einmal in Abwesenheit des Vaters die Mutter zu holen. Mit Ausrufen
erregter Freude kam die Mutter auch heran, verstummte aber an der Tür vor
Gregors Zimmer. Zuerst sah natürlich die Schwester nach, ob alles im
Zimmer in Ordnung war; dann erst ließ sie die Mutter eintreten. Gregor hatte
in größter Eile das Leintuch noch tiefer und mehr in Falten gezogen, das
Ganze sah wirklich nur wie ein zufällig über das Kanapee geworfenes
Leintuch aus. Gregor unterließ auch diesmal, unter dem Leintuch zu
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Buch Die Verwandlung"
Die Verwandlung
- Titel
- Die Verwandlung
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1912
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 54
- Schlagwörter
- Erzählung, Schriftsteller, Ungeziefer, Käfer, Insekt
- Kategorien
- Weiteres Belletristik