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Die schwere Verwundung Gregors, an der er über einen Monat litt – der Apfel
blieb, da ihn niemand zu entfernen wagte, als sichtbares Andenken im
Fleische sitzen – , schien selbst den Vater daran erinnert zu haben, daß Gregor
trotz seiner gegenwärtigen traurigen und ekelhaften Gestalt ein
Familienmitglied war, das man nicht wie einen Feind behandeln durfte,
sondern dem gegenüber es das Gebot der Familienpflicht war, den
Widerwillen hinunterzuschlucken und zu dulden, nichts als zu dulden. Und
wenn nun auch Gregor durch seine Wunde an Beweglichkeit wahrscheinlich
für immer verloren hatte und vorläufig zur Durchquerung seines Zimmers wie
ein alter Invalide lange, lange Minuten brauchte – an das Kriechen in der
Höhe war nicht zu denken – , so bekam er für diese Verschlimmerung seines
Zustandes einen seiner Meinung nach vollständig genügenden Ersatz dadurch,
daß immer gegen Abend die Wohnzimmertür, die er schon ein bis zwei
Stunden vorher scharf zu beobachten pflegte, geöffnet wurde, so daß er, im
Dunkel seines Zimmers liegend, vom Wohnzimmer aus unsichtbar, die ganze
Familie beim beleuchteten Tische sehen und ihre Reden, gewissermaßen mit
allgemeiner Erlaubnis, also ganz anders als früher, anhören durfte.
Freilich waren es nicht mehr die lebhaften Unterhaltungen der früheren
Zeiten, an die Gregor in den kleinen Hotelzimmern stets mit einigem
Verlangen gedacht hatte, wenn er sich müde in das feuchte Bettzeug hatte
werfen müssen. Es ging jetzt meist nur sehr still zu. Der Vater schlief bald
nach dem Nachtessen in seinem Sessel ein; die Mutter und Schwester
ermahnten einander zur Stille; die Mutter nähte, weit unter das Licht
vorgebeugt, feine Wäsche für ein Modengeschäft; die Schwester, die eine
Stellung als Verkäuferin angenommen hatte, lernte am Abend Stenographie
und Französisch, um vielleicht später einmal einen besseren Posten zu
erreichen. Manchmal wachte der Vater auf, und als wisse er gar nicht, daß er
geschlafen habe, sagte er zur Mutter: »Wie lange du heute schon wieder
nähst!« und schlief sofort wieder ein, während Mutter und Schwester einander
müde zulächelten.
Mit einer Art Eigensinn weigerte sich der Vater, auch zu Hause seine
Dieneruniform abzulegen; und während der Schlafrock nutzlos am
Kleiderhaken hing, schlummerte der Vater vollständig angezogen auf seinem
Platz, als sei er immer zu seinem Dienste bereit und warte auch hier auf die
Stimme des Vorgesetzten. Infolgedessen verlor die gleich anfangs nicht neue
Uniform trotz aller Sorgfalt von Mutter und Schwester an Reinlichkeit, und
Gregor sah oft ganze Abende lang auf dieses über und über fleckige, mit
seinen stets geputzte Goldknöpfen leuchtende Kleid, in dem der alte Mann
höchst unbequem und doch ruhig schlief.
Sobald die Uhr zehn schlug, suchte die Mutter durch leise Zusprache den
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Buch Die Verwandlung"
Die Verwandlung
- Titel
- Die Verwandlung
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1912
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 54
- Schlagwörter
- Erzählung, Schriftsteller, Ungeziefer, Käfer, Insekt
- Kategorien
- Weiteres Belletristik