Seite - 40 - in Die Verwandlung
Bild der Seite - 40 -
Text der Seite - 40 -
Vater zu wecken und dann zu überreden, ins Bett zu gehen, denn hier war es
doch kein richtiger Schlaf und diesen hatte der Vater, der um sechs Uhr seinen
Dienst antreten mußte, äußerst nötig. Aber in dem Eigensinn, der ihn, seitdem
er Diener war, ergriffen hatte, bestand er immer darauf noch länger bei Tisch
zu bleiben, trotzdem er regelmäßig einschlief, und war dann überdies nur mit
der größten Mühe zu bewegen, den Sessel mit dem Bett zu vertauschen. Da
mochten Mutter und Schwester mit kleinen Ermahnungen noch so sehr auf
ihn eindringen, viertelstundenlang schüttelte er langsam den Kopf hielt, die
Augen geschlossen und stand nicht auf. Die Mutter zupfte ihn am Ärmel,
sagte ihm Schmeichelworte ins Ohr, die Schwester verließ ihre Aufgabe, um
der Mutter zu helfen, aber beim Vater verfing das nicht. Er versank nur noch
tiefer in seinen Sessel. Erst bis ihn die Frauen unter den Achseln faßten,
schlug er die Augen auf, sah abwechselnd die Mutter und die Schwester an
und pflegte zu sagen: »Das ist ein Leben. Das ist die Ruhe meiner alten
Tage.« Und auf die beiden Frauen gestützt, erhob er sich, umständlich, als sei
er für sich selbst die größte Last, ließ sich von den Frauen bis zur Türe führen,
winkte ihnen dort ab und ging nun selbständig weiter, während die Mutter ihr
Nähzeug, die Schwester ihre Feder eiligst hinwarfen, um hinter dem Vater zu
laufen und ihm weiter behilflich zu sein.
Wer hatte in dieser abgearbeiteten und übermüdeten Familie Zeit, sich um
Gregor mehr zu kümmern, als unbedingt nötig war? Der Haushalt wurde
immer mehr eingeschränkt; das Dienstmädchen wurde nun doch entlassen;
eine riesige knochige Bedienerin mit weißem, den Kopf umflatterndem Haar
kam des Morgens und des Abends, um die schwerste Arbeit zu leisten; alles
andere besorgte die Mutter neben ihrer vielen Näharbeit. Es geschah sogar,
daß verschiedene Familienschmuckstücke, welche früher die Mutter und die
Schwester überglücklich bei Unterhaltungen und Feierlichkeiten getragen
hatten, verkauft wurden, wie Gregor am Abend aus der allgemeinen
Besprechung der erzielten Preise erfuhr. Die größte Klage war aber stets, daß
man diese für die gegenwärtigen Verhältnisse allzu große Wohnung nicht
verlassen konnte, da es nicht auszudenken war, wie man Gregor übersiedeln
sollte. Aber Gregor sah wohl ein, daß es nicht nur die Rücksicht auf ihn war,
welche eine Übersiedlung verhinderte, denn ihn hätte man doch in einer
passenden Kiste mit ein paar Luftlöchern leicht transportieren können; was
die Familie hauptsächlich vom Wohnungswechsel abhielt, war vielmehr die
völlige Hoffnungslosigkeit und der Gedanke daran, daß sie mit einem
Unglück geschlagen war, wie niemand sonst im ganzen Verwandten- und
Bekanntenkreis.
Was die Welt von armen Leuten verlangt, erfüllten sie bis zum äußersten,
der Vater holte den kleinen Bankbeamten das Frühstück, die Mutter opferte
sich für die Wäsche fremder Leute, die Schwester lief nach dem Befehl der
40
zurück zum
Buch Die Verwandlung"
Die Verwandlung
- Titel
- Die Verwandlung
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1912
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 54
- Schlagwörter
- Erzählung, Schriftsteller, Ungeziefer, Käfer, Insekt
- Kategorien
- Weiteres Belletristik