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Schüssel Fleisch und knapp hinter ihr die Schwester mit einer Schüssel
hochgeschichteter Kartoffeln. Das Essen dampfte mit starkem Rauch. Die
Zimmerherren beugten sich über die vor sie hingestellten Schüsseln, als
wollten sie sie vor dem Essen prüfen, und tatsächlich zerschnitt der, welcher
in der Mitte saß und den anderen zwei als Autorität zu gelten schien, ein
Stück Fleisch noch auf der Schüssel, offenbar um festzustellen, ob es mürbe
genug sei und ob es nicht etwa in die Küche zurückgeschickt werden solle. Er
war befriedigt, und Mutter und Schwester, die gespannt zugesehen hatten,
begannen aufatmend zu lächeln.
Die Familie selbst aß in der Küche. Trotzdem kam der Vater, ehe er in die
Küche ging, in dieses Zimmer herein und machte mit einer einzigen
Verbeugung, die Kappe in der Hand, einen Rundgang um den Tisch. Die
Zimmerherren erhoben sich sämtlich und murmelten etwas in ihre Bärte. Als
sie dann allein waren, aßen sie fast unter vollkommenem Stillschweigen.
Sonderbar schien es Gregor, daß man aus allen mannigfachen Geräuschen des
Essens immer wieder ihre kauenden Zähne heraushörte, als ob damit Gregor
gezeigt werden sollte, daß man Zähne brauche, um zu essen, und daß man
auch mit den schönsten zahnlosen Kiefern nichts ausrichten könne. »Ich habe
ja Appetit«, sagte sich Gregor sorgenvoll, »aber nicht auf diese Dinge. Wie
sich diese Zimmerherren nähren, und ich komme um!«
Gerade an diesem Abend – Gregor erinnerte sich nicht, während der
ganzen Zeit die Violine gehört zu haben – ertönte sie von der Küche her. Die
Zimmerherren hatten schon ihr Nachtmahl beendet, der mittlere hatte eine
Zeitung hervorgezogen, den zwei anderen je ein Blatt gegeben, und nun lasen
sie zurückgelehnt und rauchten. Als die Violine zu spielen begann, wurden sie
aufmerksam, erhoben sich und gingen auf den Fußspitzen zur Vorzimmertür,
in der sie aneinandergedrängt stehen blieben. Man mußte sie von der Küche
aus gehört haben, denn der Vater rief: »Ist den Herren das Spiel vielleicht
unangenehm? Es kann sofort eingestellt werden.« »Im Gegenteil«, sagte der
mittlere der Herren, »möchte das Fräulein nicht zu uns hereinkommen und
hier im Zimmer spielen, wo es doch viel bequemer und gemütlicher ist?« »O
bitte«, rief der Vater, als sei er der Violinspieler. Die Herren traten ins Zimmer
zurück und warteten. Bald kam der Vater mit dem Notenpult, die Mutter mit
den Noten und die Schwester mit der Violine. Die Schwester bereitete alles
ruhig zum Spiele vor; die Eltern, die niemals früher Zimmer vermietet hatten
und deshalb die Höflichkeit gegen die Zimmerherren übertrieben, wagten gar
nicht, sich auf ihre eigenen Sessel zu setzen; der Vater lehnte an der Tür, die
rechte Hand zwischen zwei Knöpfe des geschlossenen Livreerockes gesteckt;
die Mutter aber erhielt von einem Herrn einen Sessel angeboten und saß, da
sie den Sessel dort ließ, wohin ihn der Herr zufällig gestellt hatte, abseits in
einem Winkel.
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Die Verwandlung
- Titel
- Die Verwandlung
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1912
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 54
- Schlagwörter
- Erzählung, Schriftsteller, Ungeziefer, Käfer, Insekt
- Kategorien
- Weiteres Belletristik