Seite - 14 - in Die Votivkirche in Wien - Denkschrift des Baucomités
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und Verhältnissen schon ursprünglich der entsprechende Maßstab unterlegt worden. Nie harmonische und doch gemnltige
Wirkung, welche sowohl das Aeußere wie das Innere auf den Geschauer macht, beweist zur Genüge, daß sich der
Architekt die räumlichen Gedingungen, auf welche es in der Gnukunst vor Mein ankommt, stets gegenwärtig gehalten hat.
D ie Votivkirche ist ein dreischissiger Längsbnu mit theilweise eingezogenen Strebepfeilern im Schiff, mit Umgang,
Cnpellenkrnnz und Emporgalerie im Chor, und mit einem Kreuzschiffe, an das sich beiderseits Capellen oder Cxedren
schließen, so daß dasselbe ebenfalls dreischisfig erscheint; dann mit Vorhalle und Portale an jeder der beiden Seitensacaden,
und mit zwei Thürmen, drei Portalen und einer Nose an der Hnuptsncnde.
Dctrachten wir zunächst das Innere, ausgehend von dein vornehmsten Theile, dem Presbyterium oder dem Chor.
Dieser schließt mit sieben Seiten eines Zwölfeckes, doch öffnen sich die Seiten des Polygones unten wieder zu fünfseitigm
Cnpellen oder Chörlein, welche mit drei Seiten aus dem Achtecke schließen, und deren weitere zwei Seiten und zugleich
Scheidewände von den Strebepfeilern gebildet werden. Umgang und Capellcnkranz erheben sich nicht bis in die halbe
Höhe des Mittelschiffes, denn über denselben ist noch eine geräumige Galerie, eine Art erweitertes Triforium, angebracht,
die sich nur gegen das Innere der Kirche mit eils dreitheiligen, oben zwei Dreipässe und darüber einen Sechspaß führenden
Nenstern öffnet und mit je einem nltnnartigen Ausbaue gegen beide Kreuzschiffarme abschließt; es ist das in der Concurs-
nusschreibung verlangte Oratorium. Erst über diesem Iwifchenstockwerke sind die Oberfenster des Chores angebracht.
Der Umgang ist mit unregelmäßigen Kreuzgewölben gedeckt, das hohe Mittelschiff des Chores mit einem siebenseitigen
Hchlußgcwölbc, dem sich noch zwei rechteckige Kreuzgewölbe bis zur Vierung vorlegen.
Das Langhaus von der Thurmhalle bis zum Ouerschiff besteht aus fünf Jochen, deren Kreuzgewölbe im Mittel-
schiffe querliegende Rechtecke, in den Seitenschiffen nahezu (Quadrate bilden. Das Mittelschiff ist nach Wieuer Maß
l4°, 4', 9" hoch und von Achse zu Achse 6°, Z' breit. Die Seitenschiffe haben sodann fast genau die halbe Höhe des
Mittelschiffes (7°, 4') und dessen halbe Greite (3°, !/). Dafür sind die Abschlußmauern der Seitenschiffe um die Tiefe
der Strebepfeiler hinausgerückt, dadurch aus jeder Seite Capellen von 1°, 1' Tiefe gewonnen und fomit das ganze
dreischiffige Langhaus in wohlthuender Weife erweitert und aus die Greite von 16°, 1' gebracht. Die ganze Länge des
Mittelschiffes beträgt 4Z°, 3', 6".
Das Ouerhaus ist über der quadraten Vierung mit einem einfachen Äterngewölbe und in jedem der beiden
Kreuzarme mit je drei oblongen Kreuzgewölben von der gleichen Höhe und Dimension wie die im Mittelschiffe des
Langhauses eingewölbt. Das Sterngewölbe der Vierung steigt nur um ein Geringes höher empor. An beide Seiten der
Kreuzschiffarme treten noch Capellen, zusammen vier, welche die Höhe und Greite der Seitenschiffe im Lnnghause haben
und mit den Seiten eines Achteckes geschlossen sind. Sie bilden Excdrcn zwischen den Nreuzschiff-Nacadeu und dem
Langhause und erscheinen zugleich als Seitenschiffe des Ouerhnuses, so dafz dieses auch wohl dreischifsig genannt werden
kann. Die manigfache Verbindung verschieden abgeschlossener nnd beleuchteter Hallen ist so übersichtlich, daß beinahe der
ganze große Kirchenraum mit einem einzigen Glicke gesaßt werden kann, und sie verleiht dein Inneren der Kirche
überhaupt bei großer freier Naumentwickelung eine folche Uülle von immer wechselnden Durchblicken, wie sie in gleicher
Wirkung nicht leicht an einem anderen Gnuwerke dieser Art zu beobachten sein dürsten.
D ie Stützen sind Gündelpfeiler, in Gliederung und Stilcharakter der Pfeilerbildung aus der zweiten Periode des
Cölner Dombnues am nächsten verwandt. Aus dem Polygonen Pfeilersnße steigen vermittelst einer Abschmiegung die
gleichfalls polygonförmigen Sockel der Dienste auf und tragen kleine flache Pfühle, aus denen dann erst die Cylinder der
einzelnen Halbsäulen oder Dienste aufschießen. Diefe Dienste, theils stärkere oder alte, theils schwächere oder junge, sind
entsprechend den Gurten und Nippen der Wölbungen aus dem tragenden Kerne oder Schafte des Pfeilers entwickelt,
und zwar fo, daß der Körper des Schaftes nicht mehr hervortritt, vielmehr seine Peripherie in lauter Nundstäbe und
Hohlkehlen aufgelöst erfcheint. Der Uebergnng der alten Dienste in die Hohlkehlen ist durch eingelegte Stäbchen
vermittelt, bei den'jungen Diensten bleibt er in der Regel unvermittelt. Nie einzelnen Dienste bewahren auch in der
Capitälbildung ihre Selbständigkeit, indem das ans manigfachen Motiven gebildete Laubwerk nur ihnen anklebt, die
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Die Votivkirche in Wien - Denkschrift des Baucomités
- Titel
- Die Votivkirche in Wien - Denkschrift des Baucomités
- Autor
- Moriz Thausing
- Verlag
- Verlag von R. v. Waldheim
- Ort
- Wien
- Datum
- 1879
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 25.0 x 33.2 cm
- Seiten
- 148
- Schlagwörter
- Kirche, Kunstgeschichte, Architektur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918