Seite - 60 - in Die Votivkirche in Wien - Denkschrift des Baucomités
Bild der Seite - 60 -
Text der Seite - 60 -
werden, vollständig aufgegeben war derselbe indeß bei üeginn des Gaues noch keineswegs, sondern nur so weit
modificirt, als es die neue Situation des Bauwerkes eben mit sich brachte. Während also im wesentlichen die Grundlinien
von Chor und Kremschiff beibehalten wurden und das Schicksal des Centrnlthurmes der Zukunft überlassen blieb, war
zunächst die Verlängerung des Langhauses um mindestens eine Travec ein dringendes Erfordernis;, über welches gleich
bei der Nundamcntirung entschieden werden mußte. Auf Vorschlag des Nnanzministcrs Ireiherrn von Gruck wurde
Jerstel im Urühjahre 1L57 nach Venedig entsendet, um dem Erzherzoge Icrdinand Mar die von ihm vorgeschlagenen
Projcctänderungen zu erläutern. Der Erzherzog genehmigte dieselben sofort sämmtlich —mit Ausnahme der Verlängerung
des Langhauses. Diese Vrnge veranlaßte, weil sie mit einer Vermehrung der Gaukosten zusammenhing, noch langwierige
Verhandlungen, bis sie endlich nach Einholung gründlich motivirter Gutachten von Siccardsburg, Schmidt und Löhr
durch eine Entscheidung des höchsten üauherrn vom l l. April 1860 im Sinne des Architekten erledigt wurde. Dieser
hatte mit Neckt darauf hinweifen können, daß die beanstandete Kostenvcrmehrung durch das Aufgeben des ursprünglich
projectirten großen Centralthurmes reichlich quitt gemacht werde. AIs eine Reminiscenz an denselben ist blos der
kleine Dachreiter über der Vierung zurückgeblieben. Das Princip des Längsbnues hat somit vollständig gesiegt.
Dom historischen Standpunkte gewährt es ein eigenthümliches Interesse zu beobachten, wie der junge Architekt, der so
vielfach uur aus sich selbst angewiesen war, in der Abwandelung seines Ideales beim Vebergangc zur praktischen
Aussühruug nur einen Theil des Weges wiederholte, den der gothische Stil einst bei seinem Aufsteigen aus dem
französischen Nomnnismus ebenfalls zurückgelegt hat; eine Erscheinung, die ja im physischen wie im geistigen Leben
immer wiederkehrt, daß das Individuum in seiner Entwickelung etwas von den Normen rcproducirt, die sein ganzes
Geschlecht vor ihm durchzumachen hatte. Im romanischen Stile waren die beiden einander von Anbeginn entgegen-
stehenden Grundformen der kirchlichen Üaukunst, der Längsbau und der Centralbnu zuerst mit einander vereinigt
worden, indem über der Vierung der Gnsilica eine Kuppel oder ein mächtiger Eentmlthurm angelegt wurde. Dies hing
mit der damals noch üblichen Mittelstellung des Laicnaltarcs zusammen und hatte zugleich eine kräftigere Ausgestaltung
von Kreuzfchiff und Ehor im Gefolge, wo dieser Kuppelbau von einer Mehrzahl von Thürmen umstellt war, wie bei
den rheinischen Kirchen romanischen Stiles, ergab sich eine ungemein reiche uud malerische Vesammtmirkung.
Etwas Achnliches schwebte zur glcicheu Zeit den ersten Erbauern jener großen französischen Kathedralen vor, an denen
der gothische Stil vornehmlich seine Ausbildung erfuhr. Es war ein Ideal, sc> kühn und großartig, daß es allerdings
an keiner einzigen der großen französischen Gau-Unternehmungen des XIII. Jahrhunderts wirklich zur Ausführung
gelangt ist. Doch läßt die Anlage der größten Dombnuten, wie der von Laon, Ehartres, Nheims und Notre Dame von
Paris keinen Zweifel darüber, daß neben den Thürmen an Haupt- und Ieitenfacaden auch noch ein Kuppelthurm über
der Vierung beabsichtigt war. Zur praktischen Lösung dieses, wie es scheinen will, gar zu überschwänglichen Problemes
ist es aber bekanntlich gerade in Frankreich am wenigsten gekommen. Seine colossalen Kathedralen sind schließlich
doch bloße Längsbauten geblieben, an denen kaum die zwei Thürme der Hauptfacade zur Vollendung gediehen. Der
Vierungsthurm kam nur bei kleineren Kirchen wirklich zur Ausführung, z. G. an I t . Wed zu Graisne bei Soissons.
Dagegen hat die lnrerc englische Vothik gerade an diesem Gedanken Gefallen gefunden und der große viereckige
Mittelthurm, freilich nach englischem Geschmacke ohne Gekrönung nur gerade abgeschnitten, ist eine regelmäßige Zuthat
der gothischen Kathedralen Englands.
Deutschland aber hat das französische Sustem der Vothik am folgerichtigsten nnd beharrlichsten weiterentwickelt,
namentlich dessen idealsten Theil, den Thurmbau, ohne sich doch von der Gasis des Erreichbaren zu entfernen, das sich
schließlich auch immer als das zugleich stilistisch Gerechtfertigte erweist. Große vollendete Thurmbauten hat daher nur die
deutsche Gothik auszuweisen, sie stehen aber immer paarweise oder einzeln an der Peripherie der Kirche, in der Regel an
deren Hauptfacade, niemals aber in der Mitte über der Vierung. Hier hat die deutsche gothische Gaukuust jede massive
Getonung des Centrums abgelehnt und sich mit der Anbringung eines kleinen, mit dem Mnuerwerke des Gaues
in gar keinem constructivcn Zusammenhange stehenden Holzthürmchens, des sogenannten Dachreiters begnügt, welcher
60
Die Votivkirche in Wien - Denkschrift des Baucomités
- Titel
- Die Votivkirche in Wien - Denkschrift des Baucomités
- Autor
- Moriz Thausing
- Verlag
- Verlag von R. v. Waldheim
- Ort
- Wien
- Datum
- 1879
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 25.0 x 33.2 cm
- Seiten
- 148
- Schlagwörter
- Kirche, Kunstgeschichte, Architektur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918