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fremd sind: »Nur eine weder dem Genuß noch der Vernunft verhaftete Zivilisation
hat dieses Haus des Nichtzusammengehörens errichten können« (ebd.).
Die Museumsausstellung ist für Valéry ein kannibalisches Übereinanderherfal-
len, ein gegenseitiges Sich-»Auffressen« (ebd.) von Exponaten, die doch eigentlich
in ihrer historischen Funktion nur sich selbst zugehörig seien und folgerichtig auch
alleinstehen sollten. Erst der Verlust ihrer »Mutter«, der Architektur (oder, um es
weniger blumig zu fassen, der räumlichen Situation, für die sie geschaffen wurden),
gibt die Werke den Zwängen des Museums preis, in denen Valéry wiederum die Aus-
kristallisation einer fundamentalen medialen Verirrung der Moderne sieht:
Doch unsere Erbschaften erdrücken uns. Der Mensch von heute, durch die Übergewalt seiner
technischen Mittel außer Atem gekommen, ist gerade durch das Übermaß seiner Reichtümer
arm geworden. Der Mechanismus der Schenkungen und Vermächtnisse – der Weitergang des
künstlerischen Schaffens und der Ankäufe – und jener andere Anlaß für Erweiterungen, der aus
dem Bedachte kommt, den man auf den Wechsel der Moden und des Geschmacks und deren
Rückwendung zu jüngst noch mißachteten Werken verschwendet, tragen um die Wette pau-
senlos ein Kapital zusammen, dessen Übermaß gerade ihm die Nutzbarkeit nimmt. (Ebd.)
Die große Paradoxie des Museums liegt darin, das sein »Vermögen« nicht wächst,
wenn sich seine »Speicher« füllen (ebd.): Je mehr Objekte angehäuft werden, desto
beliebiger wird das einzelne Schaustück – und je meisterhafter und schöner ein Werk
ist, desto schlimmer die Gewalt, welche ihm die Musealisierung antut, denn umso
stärker verlangt es nach individueller Herausstellung. Museen werden zu Deponien
des Historischen, die alles in sich aufnehmen, was die Vergangenheit ihnen hinter-
lässt:
Das Museum übt eine nicht abreißende Anziehungskraft auf alles aus, was Menschen tun. Der
Mensch, der Werke schafft, der Mensch, der stirbt, füttern es. Alles endet an der Wand oder im
Schauschrank... Ich kann mich nicht enthalten, an die Spielbank zu denken, die bei jedem Ein-
satz gewinnt. (Ebd.)
Der Effekt auf den Besucher ist dann einer der Überwältigung und Überforderung.
Er kann nicht hunderten von Meisterwerken simultan die gebührende Würdigung zu-
kommen lassen, sie nicht alle gleichzeitig empfindsam ergründen. Sein Blick kennt
keine Tiefe mehr und gleitet nur noch pflichtschuldig über die einzelnen Exponate,
deren Anwesenheit zwar registriert, aber nicht mehr gedeutet wird. Kurzum: Das Mu-
seum macht uns »oberflächlich« (ebd.).
Valérys Kritik am Museum als kultureller Einrichtung ist freilich keine univer-
selle. Ihr Bezugspunkt ist ganz unverhohlen das Kunstmuseum, und noch konkreter
dessen französische Ausformung zur Entstehungszeit des Textes in den 1920er Jah-
ren. Die in ihr angerissenen Phänomenbereiche erschöpfen sich indes nicht im Sinn
Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Titel
- Dinge – Nutzer – Netze
- Untertitel
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Autor
- Dennis Niewerth
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Kategorie
- Medien