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den Menschen vorrangig als reflektierendes Vernunftgeschöpf begreift, und sich
stattdessen seiner körperlichen Verortung in seiner Umwelt bewusst zu werden. Die
›Atmosphäre‹ stellt für Böhme das Kernkonzept dieser Ästhetik dar. Sie soll den äs-
thetischen Blick nicht auf das Erkannte, sondern auf das Empfundene scharf stellen
(vgl. ebd.: 14f.).
Interessanterweise springt Böhme von diesen Vorüberlegungen direkt zur prakti-
schen Raumsituation des Museums, welche er als eine Schule des Erlebens und Ver-
stehens von Atmosphären begreift:
Die Kunst ermöglicht es uns, im Freiraum des Museums Atmosphären zu erfahren, ohne dass
wir dabei in einem Handlungskontext stehen. (Ebd.: 16)
Die Kunst hat laut Böhme die Aufgabe, jene »Sinnlichkeit« (ebd.) beim Betrachter
zu konditionieren, welche Voraussetzung ästhetischen Erlebens sei. Und weil diese
Sinnlichkeit jedweder intellektuellen Auseinandersetzung mit Kunstwerken vorge-
schaltet sei, könne sie nur im zweckfreien Erfahren atmosphärischer Situationen ohne
Handlungsanweisung entwickelt werden (vgl. ebd.). Kurzum: Atmosphären sind das,
was man erlebt, wenn man sich durch ästhetisch aufgeladene Räume bewegt und sie
einfach auf sich wirken lässt.
Mit seinem nach eigenem Anspruch ›neuen‹ Ästhetikbegriff plädiert Böhme zu-
gleich für ein neues Wahrnehmungsparadigma. Ganz im Sinne der Raumkonzeption
Brigitte Scheers und von Aleida Assmanns Semiose-Vorstellung sieht Böhme unsere
Dingwahrnehmung in einem Zustand starker Funktionalisierung befangen: Wir
seien, so seine Diagnose, kulturell darauf eingespielt, materielle Objekte nur noch als
transitive »Signale« (ebd.: 17) für abstrakte Zusammenhänge zu lesen und damit als
kulturelle Zeichen- und Bedeutungsträger zu interpretieren. Unsere Sensibilität für
das Ding in seiner reinen, materiellen Anmutung (und damit also die Fähigkeit zu
dem, was Assmann als den ›langen Blick‹ bezeichnet) sei uns dabei zunehmend ab-
handengekommen, was sich besonders sinnfällig in unserem gesellschaftlichen Um-
gang mit der Kunst äußere: Böhme stellt in der professionellen Kunstkritik ebenso
wie beim Laienpublikum eine völlige Fixierung auf das Kunstwerk als Zeichen und
Verweis fest, in welcher es nur mehr auf seine Bedeutung befragt werde, nicht aber
auf seine auratische Wirkung (vgl. ebd.: 23).
Diesem eindimensionalen Kunst- und Ästhetikverständnis möchte Böhme einen
»ökologischen Zugang zu ästhetischen Fragen« (ebd.: 22) entgegensetzen, dessen
zentraler Betrachtungsmodus eben die Kategorie der Atmosphäre ist. ›Ökologisch‹
ist dieser Zugang insofern, als dass er das (jedweder Reflexion über irgendeine Form
von ›Sinn‹ vorgeschaltete) ästhetische Empfinden des leiblich anwesenden Men-
schen in einer komplexen Umwelt aus materiellen Entitäten verortet, die auf ihn ein-
wirken. Er verhandelt das emotionale Erleben im Raum gewissermaßen als ein ma-
Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Titel
- Dinge – Nutzer – Netze
- Untertitel
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Autor
- Dennis Niewerth
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Kategorie
- Medien