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zu Benjamin spielt für Böhme allerdings die Frage nach Original und Reproduktion
keine herausragende Rolle. »Authentisch« ist hier die Atmosphäre bzw. das atmo-
sphärische Erleben selbst, nicht das individuelle Objekt. Tatsächlich seien die Ver-
suche der Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts, sich vom Element des Auratischen
zu befreien, genau an den Atmosphären der Ausstellungsräume gescheitert: Indem
man nicht-auratische Objekte als Kunstwerke präsentierte, habe man nicht etwa die
Auren etablierter Kunstgegenstände dekonstruiert, sondern lediglich die entsprechen-
den Gegenstände auratisiert (vgl. ebd.: 26). Marcel Duchamps berühmtes Urinal-
kunstwerk Fountain war nicht imstande, den sozialen Stellenwert der Kunst jenem
der Klempnerei anzugleichen. Es erhob vielmehr ein einziges, singuläres Pissoir in
den Status eines authentischen Kunstwerkes. Die Werke der Avantgarde blieben in
den »heiligen Hallen der Kunst« (ebd.) und ließen hier nur umso deutlicher die Macht
von Aura und Atmosphäre sichtbar werden.
Die Beziehung zwischen Ding und Raum − die für das Museum ja relevant ist
wie kaum eine andere − stellt Böhme über den Begriff der »Ekstase« (ebd.: 33) her.
Als ›Ekstasen‹ bezeichnet Böhme all jene wahrnehmbaren Zustände der Dinge, in
welchen sie ihre räumliche Anwesenheit behaupten, so z.B. Form, Ausdehnung,
Farbe und Klang. Atmosphäre und Ekstase befinden sich in einem symbiotischen
Verhältnis, das sich im Raum vollzieht − Atmosphären sind Raumverhältnisse, wel-
che von den Ekstasen der Dinge »tingiert« (ebd.) sind, sie seien damit »Sphären der
Anwesenheit von Etwas« (ebd.), die über eine distinkt räumliche Wirklichkeit verfü-
gen. Diese Wirklichkeit ist aber nicht als eine rein physikalische zu verstehen: Atmo-
sphären werden real erst durch die Anwesenheit eines erlebenden, fühlenden, leibli-
chen Subjektes (vgl. ebd.: 34). Sie entstehen, wenn das menschliche Empfindungs-
vermögen einer Raumsituation ausgesetzt wird.
Man darf diesem ästhetischen Modell sicher skeptisch gegenüberstehen. Böhmes
konsequente Ausarbeitung der Atmosphäre als eine bewusst nichtsystematische An-
näherung an die Ästhetik materieller Dinge lässt sie für einen wissenschaftlich-ana-
lytischen Zugriff auf ästhetische Phänomene mindestens problematisch werden. Ihr
Wert für die vorliegende Studie liegt daher eher in den von ihr ausgehenden Denk-
anstößen als in ihrem konkreten theoretischen Programm. Böhmes Atmosphärenbe-
griff erweitert in erster Linie die ›Aura‹ nach Walter Benjamin um eine räumliche
Komponente: Während Benjamin das affektive Wirkungspotential der Kunst im Ein-
zelobjekt verortet, richtet Böhme seinen Blick auf die Ästhetik von Umwelten sowie
jene des Zusammenspiels von Objekten miteinander und einem Beobachter, der sich
physisch in ihrer Präsenz aufhält. Der Ästhetik des individuellen Originalobjektes,
an welcher sich Benjamin abarbeitet, setzt Böhme also eine Ästhetik von Raum und
Körperlichkeit entgegen. Während für Benjamin die Aura das Resultat der Tatsache
darstellt, dass das Kunstobjekt den Prozess der Geschichte durchlaufen hat und Re-
ferent einer historischen Situation ist, sieht Böhme in den Atmosphären das Produkt
einer bestimmten Form von Anordnung im Jetzt, und das heißt auch: Während die
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Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Titel
- Dinge – Nutzer – Netze
- Untertitel
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Autor
- Dennis Niewerth
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Kategorie
- Medien