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2.1 ›VIRTUALITÄT‹ ZWISCHEN ONTOLOGIE UND
TECHNOLOGIE
Werner Schweibenz, der als wohl erster deutschsprachiger Museumskundler den Be-
griff des ›virtuellen Museums‹ nicht nur als Schlagwort, sondern als systematisch-
kategoriale Beschreibung verwandt und damit den museologischen Diskurs entschie-
den geprägt hat, akzentuiert vor allem den antiken Wortursprung der ›Virtualität‹
(vgl. Schweibenz 2001: 7). Schweibenz orientiert sich dabei am Medienjournalisten
Benjamin Woolley, der in seinem 1992 erschienen Buch Virtual Worlds: A Journey
in Hype and Hyperreality der Konjunktur des Adjektivs ›virtuell‹ und dessen Ver-
schränkung mit digitalen Medientechnologien auf den Grund geht. Woolley hält
seine vormoderne Begriffsgeschichte dabei kurz: Nach einem Aufenthalt in der Wis-
senschaft der frühen Neuzeit, die als ›virtuell‹ vor allem optische Phänomene wie
Brechungen und Spiegelungen bezeichnete (vgl. Woolley 1993: 60; vgl. Schweibenz
2001: 7) springt er mit einem großen Satz in die Antike und zum lateinischen Wort
virtus, das Woolley und Schweibenz als ›Tugend‹ übersetzen (vgl. ebd.; vgl. ebd.).1
Für Woolley ist virtus vornehmlich an eine Teilhabe am Göttlichen gekoppelt, die
der moderne Virtualitätsbegriff vor allem dadurch widerspiegle, dass mit ihm die Er-
schaffung neuer, künstlicher Welten verknüpft sei (vgl. Woolley: 60). Obgleich
Woolleys historischer Abriss unvollständig ist, sind seine Schlussfolgerungen durch-
aus wegweisend: Er erkennt nämlich, dass ›Virtualität‹ eher ein philosophisch-onto-
logischer denn ein technischer Terminus ist (vgl. ebd.; vgl. Schweibenz 2001: 7).
Von diesen Überlegungen ausgehend sieht Schweibenz das Virtuelle am ›virtu-
ellen‹ Museum vor allem in seiner Fähigkeit, neue (und dabei nicht minder ›reale‹)
Ebenen der Auseinandersetzung mit dem Exponat zu ermöglichen sowie vielfältigere
und -stimmigere Kommunikationsstrukturen im Museum zu etablieren. Er bezieht
sich dabei auf seinen Fachkollegen Ben Howell Davis, der Mitte der 1990er Jahre in
Digitalisierungsphänomenen zugleich die Entwicklung des Museums zu einem
»transactional space« (Davis 1994) beobachtete.
Der Medienwissenschaftler Stefan Münker indes erzählt die Geschichte des Vir-
tualitätsbegriffes vor allem aus seiner mittelalterlichen Verwendung heraus. Mit den
Begriffen virtualis und virtualitas bezeichnete die Scholastik des Mittelalters Exis-
tenzzustände, die eindeutig weder dem ›Realen‹ noch dem ›Irrealen‹ zuzuordnen wa-
ren, sondern irgendwo dazwischen verblieben. Diese Verwendung ist eng verknüpft
mit der aristotelischen Vorstellung, dass alles in der Welt Existierende eine Verwirk-
lichung zuvor bereits bestehender Möglichkeiten darstellt – entsprechend war ›virtu-
ell‹ für die Scholastiker ein Synonym für implizit oder latent. Das Virtuelle ist im
1 Genauer meint dieses eine dezidiert männliche Tugend, die an die Figur des römischen
Bürgers gekoppelt ist (vgl. Pertsch 2008: 671).
Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Titel
- Dinge – Nutzer – Netze
- Untertitel
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Autor
- Dennis Niewerth
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Kategorie
- Medien