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Netz und Virtualität | 85
Realen schon vorhanden, aber noch nicht zur physischen Ausformung gelangt (vgl.
Münker 2005b: 244).
Während Woolleys und Schweibenz᾿ Virtualitätsbegriff eher auf seine umgangs-
sprachliche Verwendung abhebt, schreibt Münker eine Geistesgeschichte der Virtu-
alität innerhalb philosophisch-akademischer Diskurse bis zu ihrer Wiederentdeckung
in der Postmoderne. So war es in den 1960er Jahren zunächst Gilles Deleuze, der das
Virtuelle als ontologische Kategorie erneut aufgriff und ganz im Sinne der Scholas-
tiker des Mittelalters nicht der Realität als Kontrast gegenüberstellte, sondern viel-
mehr völlig im Realen verortete, wo »das Aktuelle« oder Aktualisierte – eben das
›eigentlich‹ gewordene – seinen Widerpart bilden sollte (vgl. ebd..; vgl. Deleuze
1992: 264). Dem entspricht auch die fast drei Jahrzehnte später von Vilém Flusser
gewählte Metapher vom Virtuellen als Wellenbewegung in einem »Ozean der Mög-
lichkeiten« (vgl. Flusser 1993: 65). Jede Woge dieses Ozeans bildet hier für Flusser
das Bestreben einer Möglichkeit ab, sich zu verwirklichen. Virtuell sind für ihn jene
Wellen, die zwar hoch genug schlagen, um sich von der rein potenziell verbleibenden
Masse ihrer Gefährten abzuheben, jedoch nicht ganz hoch genug, um tatsächlich in
die Wirklichkeit hineinzuschwappen (vgl. ebd.: 65f.). Ähnlich verwendet die engli-
sche Sprache das Adverb virtually: Wenn ein Zustand virtually gegeben ist, dann ist
er eben in allen seinen entscheidenden Merkmalen vorhanden, obwohl er der strengen
Definition nach nicht vorliegen kann. Die Aussage »it was virtually night« (Weizen-
baum 2006: 142) z.B. beschreibt, wie Joseph Weizenbaum feststellt, einen Zustand,
in dem alle Merkmale der Nacht zwar vorhanden, der Uhrzeit nach die notwendigen
Bedingungen der Nächtlichkeit aber noch nicht erfüllt waren (vgl. ebd.).
2.1.1 Die Virtualität des Digitalen
Die heute dominante Vorstellung von Virtualität als einem Phänomenbereich, der in
erster Linie mit digitalen Technologien verbunden ist, geht laut Münker zurück auf
eine vorwiegend im englischsprachigen Diskurs des 20. Jahrhunderts ausgebildete
Lesart, welche von der weiteren Begriffsgeschichte und ihrer Rezeption in der kon-
tinentalen Philosophie weitgehend unberührt geblieben ist (vgl. Münker 2005b: 244).
Virtualität werde hier als die »(digital realisierte) Fähigkeit« verstanden, »etwas als
etwas zu gebrauchen, was es (eigentlich) nicht ist« (ebd.). Die Virtualität des Com-
puters wäre demnach in seiner Eigenschaft verortet, eine Maschine zu sein, auf der
sich alle anderen symbolischen Maschinen simulieren lassen (vgl. Pias 2002: 256f.).
Tatsächlich fällt aber auch dieser technische Virtualitätsbegriff letztlich in den
ontischen der Scholastiker und Postmodernisten zurück. Der Computer ist eben des-
halb eine Meta-Maschine, weil er eine Aktualitätsmaschine ist. Wie Jens Schröter in
einem Aufsatz über Die Ästhetik der virtuellen Welt betont, bedeutet »Pro-Gramm«
Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Titel
- Dinge – Nutzer – Netze
- Untertitel
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Autor
- Dennis Niewerth
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Kategorie
- Medien