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Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind. Die Sprache definiert sich hier weniger über
die Freiheitsgrade, die sie dem Sprechenden zur Verfügung stellt, als über ihre Re-
guliertheit, und erscheint damit ebenfalls als ein Machinamentum.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte die kombinatorische Poetik eine
Wiederbelebung erfahren, deren Triebkräfte zweierlei waren: Auf der einen Seite in-
teressierten sich Kybernetik und Computerwissenschaft für die Regelhaftigkeit ›na-
türlicher‹ Sprachen und damit auch dafür, inwieweit man Computern beibringen
könnte, diese zu ›verstehen‹ und zu produzieren. Auf der anderen Seite bot Permuta-
tionsdichtung Künstlern die Möglichkeit, die Grenzen ihrer eigenen Autorschaft aus-
zuloten und Texte zu produzieren, die sich zu einem gewissen Grad ›selbst‹ schrie-
ben. Als ein prominentes Beispiel eines entsprechenden Werkes führt Simanowski
die 1961 erschienenen Cent mille milliards de poèmes des französischen Dichters
Raymond Quesneau an. Quesneaus tatsächliche Schreibarbeit beschränkte sich bei
diesem kleinen Gedichtband auf das Verfassen von zehn 14-zeiligen Sonetten mit
jeweils identischem Versmaß und Reimschema. Einhunderttausend Milliarden Ge-
dichte werden aus diesen erst dadurch, dass die einzelnen Seiten quer eingeschnitten
sind ‒ es kann also jede Zeile einzeln umgeblättert werden (vgl. Simanowksi 2002:
66). Im Ergebnis werden so aus gerade einmal 10 kurzen Einzeltexten mit einem klar
benennbaren Autor eine Anzahl virtueller Texte, die so astronomisch groß ist, dass
die meisten von Ihnen niemals zur Aktualisierung gelangen und mit großer Wahr-
scheinlichkeit keine zwei Leser jemals dieselbe Gedichtkonfiguration zu lesen be-
kommen werden. Kann Quesneau noch als Autor dieser Texte gelten? Und falls nicht:
Geht die Autorschaft auf den Leser über, der zwischen Gedichtzeilen hin- und her-
blättert, oder geht sie auf in der Eigendynamik und Regelhaftigkeit des Systems
›Sprache‹ selbst?
Die vorliegende Arbeit wird diesen Aspekt stochastisch-kombinatorischer Text-
produktion an anderer Stelle noch genauer in den Blick nehmen und theoretisch kon-
textualisieren. Für den Augenblick soll dieser genealogische Exkurs nur verdeutli-
chen, warum die Hypertextidee besonders in ihrer Verbindung mit dem Meta-Me-
dium Computer in den 1980er und 1990er Jahren ein so breites Echo auch in der
akademischen Welt finden konnte: In Hypertexten schien sich die komplette Litera-
turtheorie der Postmoderne zu bestätigen, allem voran Roland Barthes 1968 formu-
lierte These vom »Tod des Autors« (vgl. Simanowski 2002: 67, vgl. auch Barthes
2000).
2.3.2 Vannevar Bush und die Memex-Maschine:
Pfade des Wissens
So bedeutend die Rolle von Literatur und Dichtung in der Ideengeschichte des Hy-
pertextes gewesen ist, seine technische Entwicklung wurde weder von Literaten,
Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Titel
- Dinge – Nutzer – Netze
- Untertitel
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Autor
- Dennis Niewerth
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Kategorie
- Medien